Die Eisfestung
das Risiko, als noch mal ohne Seil hochklettern«, sagte Simon. »Achtung!« Er nahm kurz Anlauf und machte ein paar schnelle Schritte den Pfeiler hoch. Er schaffte es bis zur Hälfte, versuchte, nach der Schnur zu greifen, erwischte sie nicht und schlitterte wieder auf den Boden zurück.
»Was hast du mit deinem Gesicht gemacht, Marcus?« Emily blickte ihn das erste Mal richtig an. »Schaut böse aus.«
»’ne Schramme von gestern Abend.«
»Autsch! Das kommt davon, wenn man erst im Dunkeln runterklettert.«
»Pass auf deine Füße auf, Simon. Du hast mich fast ins Auge getroffen.«
»Ich hab’s!« Diesmal fand Simons ausgestreckte Hand, was sie suchte. Er plumpste wieder in den Schnee, aber seine Faust hielt die Schnur umklammert. In der Maueröffnung tauchte das Ende des Seils auf; als Simon an der Schnur zog, kam immer mehr von dem Seil zum Vorschein, bis es schließlich auf den Boden herunterhing. Er grinste. »Einfach genial, was?«
Emily spähte um die Ecke des Turms und kehrte dann wieder zurück. »Die Luft ist rein«, sagte sie. »Heute bin ich die Erste.«
Als alle drei oben in der Burg angelangt waren und das Seil hochgezogen hatten, schulterte Simon seinen Rucksack und wollte in dieselbe Richtung wie am Vortag davon.
»Halt!« Marcus zeigte mit seinem Daumen in die entgegengesetzte Richtung. »Sonst musst du die ganze Runde drehen.« Er zog die zerknitterte Broschüre aus seiner Anoraktasche, schlug die ausklappbare Seite mit dem Grundriss der Burg auf und breitete sie auf dem Steinsims aus.
»Wir sind hier... Wenn wir jetzt in die Richtung gehen, kommen wir direkt zu der Wendeltreppe und hoch zu unserem Zimmer. Dauert keine zwei Minuten.«
»Alles klar, Chef. Dann geh du mal voran.«
Links konnte man durch offene Arkaden in den großen leeren Raum des Rittersaals hinabschauen, aber nach ein paar Metern mündete der Rundweg in einen ummauerten Gang, der geradeaus weiterführte. Sie kamen zu einer Wendeltreppe. Nach links bog ein weiterer Gang ab.
»Daran sind wir gestern zweimal vorbeigekommen, ohne dass es uns aufgefallen ist.« Marcus trat näher. »Unser Zimmer liegt direkt darüber, aber nach dem Plan muss hier auch noch eines sein. Lasst uns mal nachschauen!«
Ein kurzer, schmaler Gang führte in einen Raum, der viel dunkler war als das restaurierte Zimmer ein Stockwerk höher. Es gab nicht weniger als drei weitere Ausgänge, einer davon zum verfallenen Rittersaal. Er war mit Stangen und ausgebeultem Maschendrahtzaun versperrt. Außerdem war da noch ein Kamin, zwei schmale Fenster – und feuchtkalte, moderige Luft, die einem sofort in die Knochen kroch.
»Unser Zimmer gefällt mir besser«, sagte Emily. »Lasst uns hochgehen und unsere Rucksäcke auspacken.«
Sie kehrten zur Wendeltreppe zurück, Simon ging voran.
»Soll sich hier um die Kemenate gehandelt haben«, sagte Marcus. »Sie hat eine Verbindungstür zur Burgkapelle. Ich wüsste gerne -«
»Psst!« Simon blieb plötzlich stehen.
»- wie es dort -«
»Still!« Sein zischendes Flüstern ließ Emily und Marcus erstarren.
Sie lauschten. Emily hörte das gedämpfte Geräusch ihres eigenen Atems, eine Krähe, die im Wind krächzte, sonst nichts.
»Was ist denn?«, flüsterte sie. Simon schüttelte wütend den Kopf, verzog das Gesicht.
Nichts …
Dann – ein schwaches Schlurfen.
Es kam von weiter unten, von den Stufen der Wendeltreppe.
Ein leises Husten, ein gemurmelter Fluch.
Emily spürte, wie ihre Eingeweide sich verkrampften. Die Beine sackten ihr fast weg. Sie konnte sich nicht rühren.
Simon drehte sich in Zeitlupe um. Er wölbte die Hände vor den Mund. Langsam und bedächtig kam ein Flüstern aus seinem Mund. »Da… kommt… jemand. Versteckt euch.«
Panik . Emily hatte das Wort immer mit Lärm, mit großen Menschenmengen, mit Geschiebe und Gedränge verbunden, mit lauten, wilden Bewegungen, Rufen und Schreien. Das hier war Panik, da gab es keinen Zweifel – aber es war eine totenstille Panik, die ihr das Gehirn gefrieren und den Unterkiefer schlaff herunterhängen ließ. Die Zeit zog sich zäh wie Sirup. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie sah, dass Marcus sich umdrehte. In seinem Gesicht war Furcht zu lesen. Sie nahm wahr, dass er in dem feuchtkalten Raum verschwand. Sie wollte sich schon umdrehen, um ihm zu folgen, da wurde sie durch Simon abgelenkt: Zuerst schien er die Treppe hochgehen zu wollen, er machte auf Zehenspitzen zwei große Schritte in die Richtung, doch dann blieb er stehen. Er
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