Die Eisfestung
Ich lauf nicht weg! Die können meine Festung nicht erstürmen!«
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief Emily wütend und enttäuscht. »Simon – sag du was!«
Simon schaute sie nicht an, sondern schielte irgendwohin auf den Fußboden. Emily kam die Szene schon bekannt vor. »Ich weiß nicht, Em. Marcus hat wahrscheinlich recht. Die kommen in die Burg nicht rein.«
»Und was ist mit der Polizei?«
»Die Polizei auch nicht. Das wär’s schon irgendwie wert.« Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
»Aber dann -«
»Sie sind schon auf der Brücke«, sagte Marcus.
»- sitzen wir hier alle in der Falle.« Emily fühlte sich dem Starrsinn und dem Trotz der beiden ohnmächtig ausgeliefert. »Okay«, sagte sie. »Bleibt ruhig hier. Ich verschwinde.«
»Was?« Marcus wirbelte herum und blickte sie entsetzt an. »Em – das kannst du nicht machen! Du kannst mich jetzt nicht allein lassen, wo der Feind gleich angreift! Das wäre fürchterlich, das wäre Verrat!«
»Ich nenne so was Vernunft!«
»Sie sind am Torhaus vorbei und kommen gleich hierher!«, sagte Simon.
»Wird Zeit, dass wir unsere Plätze einnehmen!« Marcus verließ das Fenster. »Okay, Em, liegt ganz bei dir! Du kannst noch raus. Keiner wird dich sehen. Mach, was du willst.«
Er verschwand in den schmalen Gang, der zum Säulenzimmer führte. Simon folgte ihm in Sekundenabstand. Emily blieb allein zurück. Sie fühlte sich elend und einsam. Sie stellte sich vor, wie sie am Seil die Mauer hinunterkletterte, wie sie durch den Schnee rannte, bis sie in Sicherheit war, wie sie sich zwischen den Bäumen versteckte und dann zu ihren Eltern zurückging. Wahrscheinlich würden sie vor dem Fernseher oder beim Mittagessen sitzen. Sie schaute auf die Uhr. Erst zwanzig nach elf – noch früh. Sie hätte gedacht, dass es schon später war. Von draußen drang durch das Fenster ein Stimmengemurmel zu ihr hoch: Der Feind war da.
Sie stellte sich vor, wie sie hastig am Seil hinunterkletterte, wie sie über die Felder davonrannte, wie sie sich in Sicherheit brachte, während der Feind vor dem Tor stand.
Zu Hause wartete ihr Zimmer auf sie, mit ihrem Bett, ihrem Bücherregal, ihrem Schreibtisch, ihren alten Teddybären, der Zentralheizung. Hier in der Burg pfiff der eiskalte Wind durch alle Ritzen und Öffnungen, die Schneeflocken wurden überallhin getrieben. Ihre Finger in den dicken Handschuhen fühlten sich steif und klamm an. Sie dachte an Wärme, Bequemlichkeit – und Verrat.
Sie hätte sofort losrennen müssen, aber sie brachte es nicht fertig. Die Bilder ihres Zimmers zu Hause waren zu schwach und blass und verlockten sie nicht; sie verschwammen von Sekunde zu Sekunde mehr, aber die Burg hier war mächtig und stark. Sie durfte sich nicht einfach verdrücken, während die andern in Gefahr waren – ob es ihr passte oder nicht, sie hatte kräftig dazu beigetragen, dass sie jetzt zu dritt hier waren, in dieser verdammt blöden Situation, und sie durfte die andern nicht im Stich lassen.
Emily erstickte fast vor Angst. Gleichzeitig fühlte sie eine starke Verbundenheit. Aber da war noch ein anderes Gefühl – nämlich das von Schuld.
Ein paar Sekunden später war die Übelkeit vorbei. Sie fuhr sich mit der Hand über den Kopf und zog die Mütze weit herunter, sodass beide Ohren bedeckt waren. Sie atmete noch einmal tief durch. Dann machte sich durch den schmalen Gang auf den Weg ins Säulenzimmer.
Marcus und Simon kauerten beide auf dem Boden, jeder über ein Gussloch gebeugt, jeder mit seinem eigenen Vorrat an Felsbrocken und Steinen neben sich. Sie blickten nicht hoch, als sie das Zimmer betrat. Durch eines der Fenster direkt über dem Eingang drang das Geräusch von Schritten, heiseres Husten, Stimmengemurmel. Darauf folgte ein heftiges Rütteln, begleitet von einem kaum hörbaren Räuspern. Schließlich ertönte die Stimme von Harris:
»Ich bitte um Geduld, meine Herren. Das Schloss klemmt etwas.« Wieder ein Rütteln. »Bei diesem Wetter kein Wunder.«
Emily kauerte sich neben Marcus. Das Rütteln wurde durch das widerspenstige Quietschen alter Türangeln abgelöst. Als sich die beiden schweren Türflügel nach innen öffneten, war ein leichtes Knarren zu hören; es kam nicht mehr durch das Fenster, sondern durch die Gusslöcher herauf.
Marcus starrte angespannt durch das Loch und verdeckte es fast ganz, sodass Emily nicht sehen konnte, was unten im Durchgang gerade geschah. Er griff nach einem ziemlich großen Stein. Als sie zu Simon
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