Die Eisfestung
Emily große Bedenken hatte, was Marcus’ Vater betraf, fand sie, dass die Stimme eigentlich recht hatte. Es wäre wahrscheinlich einfacher, wenn sie alles erklären könnten. Sie blickte abwechselnd zu Marcus und zu Simon, beide wirkten nicht mehr so selbstsicher wie vorher. Aber niemand sagte etwas.
Plötzlich schlurften wieder Schritte und die schroffe, unbeherrschte Stimme von Harris drang nach oben. »Hört jetzt auf, euch da oben noch länger herumzudrücken, und macht gefälligst die Tür auf! Ihr seid auf einem Privatgrundstück – schon gemerkt? Ihr habt unbefugt das Grundstück der Burgverwaltung betreten. Ihr seid Einbrecher, und wenn ihr hier nur den geringsten Schaden angerichtet habt, wird euch der Richer schon zeigen, wo’s langgeht!«
Der Polizist begann, mit gedämpfter Stimme hastig auf ihn einzureden, aber der Schaden war angerichtet. Die drei jungen Zuhörer oben im Säulenzimmer blickten einander entsetzt an. Von der Stelle, wo sie kauerte, konnte Emily die Plexiglasdeckel sehen, die Marcus von den Gusslöchern gerissen hatte. Bilder von Gerichtssälen und Richtern mit weißen Perücken geisterten ihr durch den Kopf, und als die vernünftig klingende Stimme wieder zu sprechen anfing, waren die früheren Verlockungen vergessen.
»Bitte nimm das nicht ernst, Marcus«, sagte die Stimme. »So weit muss es nicht kommen, wir regeln das. Wir wollen nur, dass du runterkommst und die Tür aufmachst.« Eine Pause. »Du willst doch nicht, dass es Ärger gibt, oder?« Emily entdeckte eine Spur von Ungeduld in der Stimme. Sie fröstelte. Simons Gesicht war härter und kantiger geworden.
Dann geschah etwas, was sie nicht erwartet hatte. »Marcus, dein Vater will mit dir reden«, sagte der Polizist. »Er steht neben mir.«
Für Emily klang die Stimme nicht wie die eines brutalen Schlägertypen, der regelmäßig sein Kind verprügelt. Es war eine bedrückte, ängstliche und flehende Stimme, die da sprach. »Marcus, ich bin’s, dein Vater. Ich hab mich so... ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Komm runter und lass uns nach Hause fahren. Wir stehen das gemeinsam durch. Ich bin nicht wütend. Nicht wegen dem Geld und solchen Sachen.«
Ein Schweigen folgte. Emily beobachtete den Ausdruck in Marcus’ Gesicht. Keine Veränderung.
»Ich weiß, dass wir ein paar Probleme miteinander hatten... und ich, ich hab kapiert... dass wir sie nur gemeinsam lösen können. Aber du musst mit mir reden, es nützt nichts davonzurennen...« Die Stimme verstummte verunsichert, setzte dann wieder ein. »Wir... wir könnten irgendwohin fahren, wo es uns gefällt, und über alles reden. Du hast dir hier ja ein zugiges altes Gemäuer ausgesucht. Ist bestimmt kalt da drin, was? Wir könnten in die kleine Pension am Meer fahren, wie früher, weißt du noch? Das wär doch was. Könnten wir beide mal gebrauchen. Was hältst du davon, Marcus?«
Marcus schaute reglos durch das Gussloch nach unten. Stimmengemurmel war zu hören, es wurde hin und her geredet. Dann sprach wieder die bedrückte Stimme, noch flehender als vorher.
» Bitte , Marcus. Ich sag dir doch, wir stehen das gemeinsam durch – du und ich. Wir haben Probleme miteinander, das weiß ich. Aber wenn wir uns beide bemühen, dann kriegen wir das wieder hin, dann wird es wieder wie früher sein.«
Zu ihrem großen Entsetzen sah Emily, wie aus Marcus’ Augen Blitze schossen, wie sein Gesicht sich verzerrte und wie er, den Kopf über das Loch gebeugt, mit einem wilden Aufschrei brüllte: »Lügner! Es wird nie mehr so sein wie früher!«
Der Schrei hallte mit einem verzweifelten Echo im Säulenzimmer nach. Auf der Treppe herrschte erst entsetztes Schweigen, dann donnerte es voller Zorn zurück.
»Hör endlich auf, dich wie ein verzogener Bengel aufzuführen! Komm sofort runter! «
Mit aschgrauem Gesicht sprang Marcus auf, griff nach den Steinen, schaufelte und schmiss zwei Handvoll davon durch das Gussloch hinunter. Ein dumpfes Aufschlagen und Prasseln, ein Aufschrei. Marcus wollte gerade nach der nächsten Handvoll Steine greifen, als Emily sich auf ihn warf. Durch den Aufprall wurde er umgestoßen, fort von dem Loch, und die Steine wurden in alle Richtungen verstreut. Einen Augenblick kämpften sie miteinander, Marcus auf dem Rücken, Emily über ihm – dann hatte er sie abgeschüttelt und ziemlich unsanft weggestoßen. Sie rutschte gegen den Sockel einer Säule, schnappte nach Luft, ließ los und musste zusehen, wie Marcus sofort wieder zum Gussloch
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