Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
Vom Netzwerk:
Bahnsteigs, Mascha und Katja bei mir untergehakt. Durch einen Hain Silberbirken, deren Äste auf so raffinierte Weise abgerundet waren, dass kein Schnee darauf liegen bleiben konnte, folgten wir einem kaum auszumachenden Pfad in eine Richtung, in der es nach menschlichen Behausungen aussah.
    Es ist ein seltsames Land, dieses Russland, ein Land mit begabten Sündern und dem einen oder anderen Heiligen,
bona fide
Heiligen, wie sie nur ein Ort mit solch kultivierter Grausamkeit hervorbringen kann, dieser irren Mischung aus Pracht und Pöbel. Jenen Nachmittag bestimmte die gleiche Mischung. Das Dorf präsentierte sich als einer dieser russischen Flecken, die aussehen, als wäre gerade ein Krieg zu Ende gegangen, obwohl es keinen gab, als die Art Dorf, aus dem jeder nüchterne, körperlich unversehrte Mensch längst geflohen war, um nur Verrückte, Kriminelle und Polizisten zurückzulassen. Es gab bloß ein einziges Geschäft. Davor standen zwei verlebte Bärtige, die vermutlich auf einen Dritten warteten, um eine Flasche Wodka mit ihm zu teilen. Wir traten ein, um Trinkwasser und Holzkohle zu kaufen.
    Die beiden Frauen trugen die Taschen aus Moskau und die Holzkohle, für mich blieb das Wasser; die Griffe der großen Plastikbehälter schnitten mir durch die Winterhandschuhe in die Haut. Katja und Mascha schlugen einen Weg ein, der an einer grauen Mietskaserne vorbei zu einem rostigen, kleinen Tor führte. Mit einem großen alten Schlüssel wie von einem Gefängniswärter öffnete Mascha das Tor, und wir waren zurück im Weihnachtskartenrussland; Birken wechselten mit noch üppig grünen Kiefern ab, den Boden zwischen den Bäumen bedeckte reines, unschuldiges Weiß. Während wir durch den Schnee stapften, knackte hin und wieder ein Zweig laut wie ein Peitschenknall, der von den Bäumen widerhallte. Nach hundert Metern stießen wir auf einen halb zugefrorenen Bach, Rinnsale quirlten zwischen den sich übereinanderschiebenden Eisschollen, die wir auf einer wie auf einem Rummelplatz schaukelnden Hängebrücke aus dünnen Seilen überquerten, einige Bretter fehlten. Ich kam mir vor wie ein Komparse im sibirischen
Indiana Jones
.
    Verteilt unter den Bäumen lagen am anderen Ufer die Datschen – baufällige, aus dem Schnee ragende Holzhütten. Ich sah aus einem der Schornsteine Rauch aufsteigen, die übrigen Hütten wirkten verlassen. Eiszapfen hingen wie prachtvoll verzierte Dolche von den vorstehenden Dächern. Außer uns war niemand weiter zu sehen.
    Die fünfte oder sechste war unsere Datscha; sie lag in einem weiß zugedeckten Garten; im ansonsten unberührten Schnee waren die flachen, geometrischen Spurenmuster von Vogelfüßen zu sehen. Schief wie der Turm zu Pisa stand die Hütte und sah von außen wie ein Slapstickhaus aus einem Stummfilm aus, das sich mit letzter Kraft aufrecht hielt, um gleich in sich zusammenzubrechen und uns in einem Fensterrahmen inmitten der nun harmlosen Ruine stehenzulassen. Innen war es viel geräumiger, als es von außen möglich schien. Im vorderen Zimmer gab es eine lang nicht mehr aufgezogene Standuhr, Fotos von verstorbenen Verwandten in staubigen Rahmen und an der Decke eine nackte Glühbirne. Das Sofa, das einmal das besondere Lieblingsmöbel von jemandem gewesen sein musste, war mit vielfach ausgebessertem Goldstoff bespannt und zeigte schnäbelnde Störche in einem Kassettenfeld unterhalb der Armlehnen. In einem zweiten, kleineren Raum entdeckte ich einen Gasringbrenner und einen Kanister, einen Tisch und ganz unvermutet eine Treppe, die zu einem Schlafzimmer auf dem Dachboden führte. Oben stand ein gemachtes Einzelbett; durch das vereiste Fenster sah man in den Wald.
    Mascha lag gleich auf den Knien und stopfte Holzscheite aus einem Korb an der Tür ins Ofenloch – übrigens ein alter russischer, in die Mauer eingelassener Ofen von der Sorte, auf denen früher die Hausbediensteten zu schlafen pflegten. Katja ging nach draußen, um die
banja
vorzuheizen, eine kleine, separate Hütte mit eigenem Ofen und Schornstein, gut zwanzig Meter hinter der Datscha, fast schon unter den Bäumen. Mascha deutete auf den Grill, eine praktische Metallwanne mit abnehmbaren Füßen, die versteckt unter dem Tisch stand.
    Ich wickelte das in Moskau gekaufte Fleisch aus und steckte die Brocken auf imposant verkrustete Spieße. Dann zog ich mit Grill und Holzkohle nach draußen, stand allein in der winterlichen Stille und kümmerte mich um das Feuer. Es begann wieder zu schneien; große, schwerelose

Weitere Kostenlose Bücher