Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
sie sich entscheiden kann.«
Mir fiel der Plan ein, von dem sie geredet hatten, damals, an jenem Nachmittag, an dem Mascha und Katja mich ihrer Tante vorstellten. Darum also ging es, dachte ich.
Mascha langte mit der Hand unter den Tisch nach meinem Knie und strich mir mit den Fingernägeln über die Innenseite des Oberschenkels. »Keine Sorge, Kolja«, sagte sie. »Ich liebe dich.«
*
Am Samstag standen wir zu dritt vor Tatjana Wladimirownas Haus und fragten in die knisternde Gegensprechanlage, ob sie so weit sei. »Immer bereit«, antwortete sie und ließ uns ein, damit wir nicht draußen im Schneematsch warten mussten. ›Immer bereit‹ lautete der Gruß der Pioniere, erzählte Mascha – dem sowjetischen Pendant zu den Pfadfindern, denen nicht nur beigebracht wurde, ein Lagerfeuer zu bauen, sondern auch, Spione zu enttarnen und Kulaken zu denunzieren.
Als Tatjana Wladimirowna zu uns herunterkam, trug sie eine Art extra dicke Wintertunika, braun und gefüttert, dazu einen leuchtend blauen Schal, Handschuhe und das, was in Lutton in den achtziger Jahren Moon Boots genannt worden war. In der Hand hielt sie eine große Plastiktüte mit, wie sich später herausstellte, einer Plastikdose voll eingelegter Heringe, ein paar hartgekochten Eiern und einer Kanne süßen Tee, den sie uns aufzudrängen begann, sobald wir in Borowitskaja umgestiegen waren und es uns für die lange Fahrt nach Butowo bequem gemacht hatten. In einem Fetzen braunen Papier hatte sie sogar ein wenig Salz für die Eier mitgebracht.
»Es ist lange her«, flüsterte Tatjana Wladimirowna mir auf Russisch zu, »da bin ich mit Pjotr Arkadjewitsch oft nach Butowo gefahren, um im Wald Pilze zu sammeln und im Teich zu schwimmen. Damals gab es allerdings noch keine Metro. Wir haben den Bus genommen und sind dann zu Fuß gelaufen.«
Wir fuhren nach Butowo, erklärte Mascha, weil Tatjana Wladimirowna einen Mann namens Stepan Mikhailowitsch kannte, dessen Firma am äußersten Stadtrand jene neue Wohnsiedlung baute, in die Tatjana Wladimirowna womöglich einzog. Im Frühjahr würde sie aufhören, im Museum zu arbeiten, sagte Mascha, und wollte dann raus aus Moskaus Stadtmitte, wo es ihr zu viele Autos und Verbrecher und zu wenig Wald gab. Sie hatte vor, ihre Wohnung gegen eine am Teich in Butowo zu tauschen.
Der Brauch, Wohnungen zu tauschen, sagte Mascha, sei ein Erbe aus sowjetischer Zeit. Früher habe einem die Wohnung nicht gehört, erklärte sie – es habe einem überhaupt nichts gehört, höchstens das Grab –, doch konnte man das Recht, darin zu wohnen, eintauschen gegen das Recht von jemand anderem, woanders zu wohnen. Manche Leute zögen auch heute noch den Tausch vor, fuhr Mascha fort, nicht zuletzt deshalb, weil sie fürchteten, das Geld zu versaufen, wenn ihnen ihr Besitz bar ausgezahlt wurde. Im Fall ihrer Tante aber, sagte sie, würde Stepan Mikhailowitsch vermutlich noch etwas Geld dazugeben, da die Wohnung in der Stadtmitte mehr wert sei als eine neue Wohnung in Butowo. Wie viel er ihr zahlen würde, habe man noch nicht vereinbart; die Einzelheiten wollten sie später besprechen. Heute würden sie sich nur mit ihm treffen, sich die Wohnung anschauen, dann zurück nach Moskau fahren, Vorräte holen und mit einer anderen Bahn zur Datscha hinausfahren.
*
Der alte Teil der Moskauer Metro im Stadtzentrum zählt zu jener Art U-Bahn-System, das entsteht, wenn einem tyrannischen Irren sämtlicher Marmor, Onyx und alles an menschlicher Arbeitskraft zur Verfügung gestellt wird, was er sich nur erträumen kann. Doch mit Malachit, Buntglasfenstern und ausgefallenen Basreliefs ist es vorbei, sobald die Metro oberirdisch fährt, und das passiert lang vor dem ehemaligen Dorf Butowo, das fast am Ende der Strecke liegt. Als wir aus der Metro-Station traten, sahen wir überall neue Wohnhochhäuser, weiß, pfirsichfarben und längst nicht so hässlich wie die sowjetischen Wohnblöcke, hier und da gab es sogar Flächen mit Stoppelrasen.
Wir winkten uns ein Taxi, und ich weiß noch, dass der Fahrer uns auf dem Weg zum Wohnblock im Schnelltempo eine Klage über seine verlorene Jugend und das verlorene Heimatland vortrug. Zu Sowjetzeiten sei er Ingenieur gewesen, erzählte er. »Heute«, fuhr er fort, »sind die Chinesen für uns viel zu gewieft … Wir geben all unsere natürlichen Ressourcen aus der Hand … wer in Russland über vierzig ist, der ist erledigt.« Wir fuhren bis zu den letzten Hochhäusern und bogen dann links ab.
Wir kamen zu einem
Weitere Kostenlose Bücher