Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Gebäude am äußersten Rand von Moskau. Auf der einen Straßenseite nichts als Stadt und Stress, auf der anderen Seite ein Butowo, das der vielen Jahre alten Erinnerung von Tatjana Wladimirowna entsprach, ein uriges, russisches Idyll windschiefer Holzhäuser, daneben und dahinter kleine Obstgärten. Jenseits der Häuser mit ihren verzierten Fensterrahmen, baufälligen Zäunen und rostigen Wellblechdächern erstreckte sich ein Silberbirkenhain, und dahinter lag der grüne Wald – ein Wald, der aussah, als könnte man dort noch immer Pilze sammeln.
Es war etwa halb elf oder elf am Vormittag. Wir standen vor dem Eingang, stampften mit den Füßen und warteten auf Stepan Mikhailowitsch. Es war kalt, doch war ich seit kurzem dazu übergegangen, meinen echten Wintermantel zu tragen, ein schwarzes Michelin-Monster mit thermonuklearen Säumen, die das Blut selbst bei diesen napoleonischen Temperaturen in Bewegung hielten. Die Luft war längst nicht so verschmutzt wie in der Stadt. Wir konnten Kiefern riechen.
Mascha telefonierte. Dann sagte sie: »Er kommt. Stepan Mikhailowitsch ist unterwegs.«
Knapp fünf Minuten später war Stepan Mikhailowitsch da, ein hagerer Mann mit kurzem Pferdeschwanz und nervösem Lächeln. Er dürfte kaum älter als fünfundzwanzig gewesen sein, was mich nicht wunderte, da jede Menge aufstrebender russischer Geschäftsleute praktisch noch in der Pubertät steckte. Er gab Mascha, Katja und mir die Hand, verbeugte sich vor Tatjana Wladimirowna, und wir gingen ins Haus, Stepan Mikhailowitsch zuletzt. Er tastete nach dem Lichtschalter. Die Bauarbeiten waren noch nicht abgeschlossen, die Wände nicht gestrichen; der Fußboden im Eingangsbereich musste noch gelegt werden; die Heizung schien nicht zu funktionieren. Drinnen war es mindestens so kalt wie draußen auf der Straße. Da der Aufzug fehlte, gingen wir die Treppe hinauf in den siebten Stock zu der Wohnung, die bald vielleicht Tatjana Wladimirowna gehörte, und wischten vereinzelte, aus den Anschlüssen in der Decke ragende Elektrokabel beiseite. Tatjana Wladimirowna lehnte es ab, sich bei mir unterzuhaken, blieb aber zweimal vornübergebeugt stehen, keuchte und stützte sich auf den Knien ab. Es roch nach Farbe und Kleister.
Im siebten Stock öffnete Stepan Mikhailowitsch die widerspenstige Wohnungstür mit Schlüssel und Schulterstoß. Die Wohnung war ebenfalls noch nicht fertig, kahl und bloß verputzt, doch ließ sich erahnen, wie sie einmal aussehen würde: ein kleines Ikea-Paradies mit großen Fenstern und vergleichsweise hohen Decken, zwei geräumige, kastenförmige Schlafzimmer und eine ins Wohnzimmer integrierte Küche. Es gab zwei Balkone, einer im Schlafzimmer mit Blick auf Moskau, von dem im Wohnzimmer schaute man zum Wald.
»Siehst du, Tatjana Wladimirowna«, sagte Mascha, als wir im Wohnzimmer standen, »bald brauchst du deine Mahlzeiten nicht mehr von der Küche ins Esszimmer zu tragen.«
Statt zu antworten, ging Tatjana Wladimirowna auf den Balkon. Ich folgte ihr, achtete aber darauf, jeden Moment ins Zimmer zurückspringen zu können, falls er unter mir nachgeben sollte. Von hier oben war das Chaos des Grundstückswirrwarrs auf der anderen Straßenseite gut zu sehen, ein paar zähe, angepflockte Ziegen und irgendwo unter den Bäumen das Glitzern eines gefrorenen Teichs. Die Sonne leuchtete unbestimmt aus milchigem Novemberhimmel herab, alt, aber kräftig, nur könnte ich wetten, dass derselbe Ausblick im April – zwischen Tau und dschungelgrüner Sommerexplosion – oder im rauen Mittoktober ziemlich trist und deprimierend sein würde. Als wir jedoch dort auf dem Balkon standen, deckte der Schnee wie jedes Jahr fürsorglich all die alten Traktorteile und wild entsorgten Kühlschränke zu, die vielen Tierleichen und Unmengen leerer Wodkaflaschen, die sonst die russische Landschaft vermüllen. Wie man bei Gedächtnisverlust vorübergehend seine Gewissensqualen vergisst, so ließ der Schnee alle Narben und Makel vergessen.
Tatjana Wladimirowna holte tief Luft und seufzte. Ich meinte, regelrecht sehen zu können, wie sie sich den verbleibenden Rest ihrer Tage ausmalte, den glücklichen, unverhofften Schlusssatz ihres Lebens, in dessen Verlauf sie jene klebrigen Fruchtkompotte einkochte, wie sie alte Russinnen so gern fabrizieren, mit Kopftuch tragenden Babuschkas schwatzte und tat, als hätte es die letzten siebzig Jahre nie gegeben.
»Gefällt es dir, Tatjana Wladimirowna?«, rief Mascha.
Wieder gab Tatjana
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