Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Wladimirowna keine Antwort, sondern kehrte dem Balkon den Rücken und spazierte durchs Wohnzimmer. An der Gebäudeschmalseite blieb sie stehen, direkt vor einem Fenster, von dem aus beides zu sehen war, das Ende der Stadt und der Beginn vom Land. Hingeduckt in den Wald, konnte man die weißen Türme einer Kirche erkennen, kleine goldene Kuppeln, obenauf silberne, orthodoxe Kreuze.
»Ich glaube«, sagte Tatjana Wladimirowna, »hier kommt Pjotr Arkadjewitschs Schreibtisch hin. Was meinen Sie, Nikolai?«
»Ich denke, das wäre schön«, erwiderte ich. Ich dachte wirklich, es wäre schön und die Wohnung für sie genau richtig, bestimmt habe ich das gedacht. Nur habe ich nicht genug nachgedacht. Ich wollte zurück in die Stadt und raus zur Datscha, zur
banja,
zur Nacht.
»Ja«, sagte Katja und lächelte ihr unergründliches Lächeln, die herrliche Nase rosig von der Kälte. »Das wäre wunderbar, Tatjana Wladimirowna. Wirklich, sehr schön. Und diese frische Luft!«
»Stepan Mikhailowitsch«, sagte Mascha, ging in ihrem roten Daunendeckenmantel über den kalten Boden auf ihn zu und berührte ihn am Arm, »was glauben Sie, wann sind die Bauarbeiten abgeschlossen?«
»In einem Monat, schätze ich«, erwiderte Stepan Mikhailowitsch. Ein Monat schien mir optimistisch, aber bei den Russen konnte man nie so recht wissen. Mal suhlten sie sich Jahrzehnte in Wodka und Dreck, dann aber, wenn ihnen der Sinn danach stand und der Anreiz stimmte, zogen sie in Null Komma nichts einen Wolkenkratzer hoch oder ermordeten an einem Nachmittag die ganze königliche Familie.
Stepan Mikhailowitsch schwieg und sagte schließlich: »Ich denke, Tatjana Wladimirowna wird in dieser Wohnung glücklich sein. Die Gegend ist sauber, und es gibt hier nicht allzu viele Autos und Ausländer.«
Tatjana Wladimirowna lächelte und ging wieder hinaus auf den Balkon, diesmal allein. Ich sah, wie sie sich mit dem Handschuh über die Augen fuhr, und ich glaube, sie hat geweint, aber da ich hinter ihr stand, kann ich das nicht mit Gewissheit sagen.
Ich hatte nichts getan, dessen ich mich schämen musste, oder? Nichts, was man mir vorwerfen konnte. Nein, nicht so richtig. Noch nicht.
*
Wir boten Tatjana Wladimirowna an, sie nach Hause zu begleiten, aber sie winkte ab. Also verabschiedeten wir uns, da sie im Zug sitzen blieb, während wir ausstiegen, um für zwei Stationen auf die rote Linie zu wechseln und bis Puschkinskaja zu fahren. Um die Ecke von meiner Wohnung gingen wir in den Supermarkt auf der Bolschaja Bronnaja, und beim Fleischer machte ich eine weitere Geste, die jeder Russe zu verstehen scheint, genau wie die Handzeichen, die Mascha mir an jenem Abend im Traum des Ostens beigebracht hatte, das Tippen an den Hals oder das Andeuten unsichtbarer Epauletten. Ich streckte beide Hände vor und drehte sie in den Gelenken, als versuchte ich, zwei imaginäre Handknäufe zu bewegen. Der Mann hinter der Theke verstand, dass ich Schaschlik wollte, und wickelte mir ein Kilo mariniertes Lammfleisch ein. In der pompösen Station Belorusski erwischten wir einen Pendlerzug, der uns am Butowo gegenüberliegenden Ende aus der Stadt brachte, der versprochenen Datscha entgegen.
Ich weiß noch, dass während dieser Stunde im ratternden Zug ein seltsam schäbiges Kabarett an uns vorbeidrängte – Bettler und Hausierer, die in schier endloser Reihe einer dem anderen durch die Waggons folgten und Bier verkauften, Stifte, Zigaretten, geröstete Sonnenblumenkerne, Raubkopien von DVD s oder Allzweckparfüm (zum Auftragen oder Trinken). Andere spielten Akkordeon, erzählten, wie sie in Tschetschenien ein Bein oder ihren Mann verloren hatten. Sie waren Prostituierte, Ausreißer, menschliches Strandgut der unterschiedlichsten Art. Einer alten Frau mit schiefem Gesicht und dünnem Mantel gab ich hundert Rubel. Ich glaube, als wir ausstiegen, war es gegen drei Uhr.
Sofort wurde es schön. Die Station bestand nur aus einer hölzernen Plattform auf Stelzen mit einem altmodischen Schild, auf dem ›Orekhowo‹ oder ›Polinkowo‹ oder sonst was stand, einer dieser betulichen, prärevolutionären russischen Landnamen, die man änderte, als alles kollektiviert wurde, um sie nach dem Fall der Mauer dann zurückzuverändern. Wir standen allein am Bahnsteig, unsere Atemwolken vermischten sich, unsere Körper warfen scharfe Schlagschatten in den Schnee. Überall war Wald; die Äste schneebedeckt, wie mit Zuckerguss überzogen. Wir schlenderten zu den Stufen am Ende des
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