Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
das Tablett forträumt, damit man entkommen kann. Ich schätze, all dem lag die Einsicht zugrunde, ich hätte wie meine Eltern werden können, die Angst, dass ich vielleicht noch so würde – dass es mir nicht gelingen könnte, mein eigenes Leben zu leben.
Wir saßen da und sahen den Kindern zu, hofften, sie würden irgendwas Ausgefallenes, was Exzentrisches anstellen. Bis einen Tag nach dem 26 . Dezember hielt ich noch aus, dann verlegte ich den Rückflug vor und flog eine Woche früher zurück nach Hause, nach Moskau, kurz vor Silvester.
*
Ich eilte durch das Gedränge hagerer russischer Jugendlicher, die am Gepäckband um die Koffer ihrer Eltern kämpften, hinaus ins Gewühl kriminell aussehender Taxifahrer in der Ankunftshalle und in den typischen russischen Alltagskrieg, den Krieg aller gegen alle. Ich lief an den Check-in-Schaltern vorbei und kaufte mir einen Fahrschein für die Bahn in die Stadt.
Der große Frost war da, der echte kryogneische Winter, den ich an den Zähnen und dann überall spürte, sobald ich nach Flughafenbahn und Metro aus feuchtkaltem Untergrund in die eisige Luft des Puschkin-Platzes trat. Vor meiner Abreise nach England was es nicht so kalt gewesen, vielleicht minus zehn Grad. Ich weiß noch, auf dem Weg über den Bulwar zu meiner Wohnung gefror der Atem anders, als er es vor Weihnachten getan hatte, gerann zu festem Nebel. Die ungeschützten Wangen, die unbedeckten Hautstellen zwischen aufgeschlagenem Kragen und in die Stirn gezogener Mütze brannten und wurden dann taub. Schutzsuchend umarmten sich die Haare in den Nasenlöchern und froren zusammen. Das elektronische Thermometer vor McDonald’s zeigte minus siebenundzwanzig Grad an. Es war so kalt, dass fast niemand auf der Straße rauchte. An die Verkehrspolizisten hatte man altmodische Fellstiefel ausgeteilt, eine alte russische Vorsichtsmaßnahme, die verhindern sollte, dass ihnen die Füße abfielen, während sie sich draußen herumtrieben und von den Leuten Bestechungsgelder einforderten.
Ich rief Mascha an und vereinbarte, Neujahr mit ihr, Katja und, zumindest anfangs, auch mit Tatjana Wladimirowna zu verbringen. Bis zu den zehn gesetzlichen Neujahrsfeiertagen, diesem nationalen Sauf- und Fressgelage, das meine Kollegen nur ›Skiurlaub der Oligarchen‹ nannten, blieben noch zwei Arbeitstage, und da ich nichts Besseres zu tun hatte, ging ich am Tag nach meiner Rückkehr ins Büro.
»Dieser verfluchte Inspektor«, sagte Paolo, als ich die Tür zum Büro schloss. Die unter seinem Fenster über das Weiß des Paweletskaja-Platzes wuselnden Orangemänner sahen wie eine Armee wütender Ameisen aus. »Dieser verfluchte Kosak.«
»Schön, dich wiederzusehen, Paolo.«
»Es ist fast geschafft«, sagte er. »Der Kunde ist fast zufrieden. Alle sind fast zufrieden. Nur dieser Inspektor nicht. Wo ist er, Nicholas?«
»Keine Ahnung.«
»Weißt du, manchmal wünsche ich mir, wir hätten den Kosaken nie kennengelernt. Warum muss der unbedingt das Projekt finanzieren? Warum müssen es die Britischen Jungferninseln sein? Immer die Jungferninseln. Egal, wie geht es dir?«
ACHT
E hrlich gesagt, selbst die Banker kümmerte es damals nicht besonders, ob die Banken, für die sie arbeiteten, ihr Geld auch zurückbekamen. Sie verdienten ihre Boni schon fürs Austeilen und würden vermutlich längst versetzt oder befördert worden sein, ehe die Russen oder wer auch immer mit den Rückzahlungen auch nur in Verzug geraten konnten. Die Banken aus dem Westen waren scharf darauf, mit Moskau ins Geschäft zu kommen, da alle anderen es auch zu sein schienen, und die meisten kümmerte es nicht besonders, an wen das Geld ging. Wenn sie Kredite an eine der großen Energiefirmen oder einen Metallbetrieb vergaben, dann oft ganz ohne Sicherheiten: Die Russen ertranken in Petrodollar; außerdem wussten die Firmenbosse, langfristig würden sie sowieso reicher werden, wenn sie sich nur an die Gepflogenheiten hielten – oder nicht?
Obwohl die Projektfirma des Kosaken neu war und noch keine Bonitätsdaten vorweisen konnte, mussten bestimmte Kriterien erfüllt werden. Wir hatten die Briefe vom Gouverneur der Region, in denen er sich verpflichtete, das Projekt zu unterstützen. Narodneft hatte Vereinbarungen unterzeichnet, die zusicherten, eine bestimmte Menge Öl aus den nördlichen Ölfeldern zum Terminal zu pumpen, sobald der in Betrieb war; außerdem wurde die Höhe der zu zahlenden Exportgebühren festgelegt. Wir konnten Interessenbekundungen von
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