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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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sei er von mir enttäuscht. Vielleicht was Moralisches, weil ich einen Job hatte, bei dem es eher darum ging, Geld zu verdienen, statt die Welt zu retten. Vielleicht auch das Gegenteil, denn Moskau, mein Verdienst und ich selbst erinnerten ihn an all das, was er nie getan hatte und auch nie mehr tun würde.
    Am Ersten Weihnachtstag kam mein Bruder aus Reading mit Frau und Kindern, William (der, der an Dads Siebzigsten den iPod geklaut hat) und Thomas; meine Schwester kam aus London, allein. Wir überreichten uns wie immer ein paar unpersönliche, aber praktische Geschenke, Socken, Schals sowie Mir-ist-nichts-Besseres-eingefallen-Gutscheine von John Lewis. Ich hatte Matrjoschkas mitgebracht, Pelzmützen für die Kids und den Rest im Duty-free besorgt.
    Es hätte nett werden können. Es gab wirklich gar keinen Grund, warum es nicht hätte nett werden können. Wir waren schließlich nur getrennte Wege gegangen, hatten einander aus dem Blick verloren und nicht mehr viel gemeinsam außer einigen weichgespülten Erinnerungen, in denen Eselsritte vorkamen und Überportionen Eiscreme, Anekdoten, die man schon Dutzende Male gehört hatte, dazu noch ein paar alte Reizthemen, die sich wie Phantomschmerzen meldeten, sobald wir zusammenkamen. Es gab eine Zeit, da hofften wir, die Kinder böten eine zweite Chance, zumindest für meinen Bruder und mich, aber sie haben uns enttäuscht. Wir aßen Truthahn, lobten das saftige Fleisch, flambierten für die Jungen den Weihnachtspudding und verzogen uns anschließend aufs Chintzsofa ins Wohnzimmer, Papierhüte schief auf dem Kopf, um uns jenem pflichtbewussten Alkoholkonsum hinzugeben, der eher mit einem Mord endet als mit echter Fröhlichkeit.
    Wir unterhielten uns angeregt über die neuen Parkvorschriften in der Stadtmitte und waren, wie immer, unterschiedlicher Meinung, ob wir uns, wie von meinem Vater gewünscht, die Weihnachtsansprache der Queen anhören sollten oder nicht. Als mein Handy klingelte, war es, als ertönte im Bombenbunker die Sirene für Entwarnung.
    »Wie geht’s England, Kolja?«
    Ich fühlte mich schwindlig, aufgeregt, fast, als würde mir übel. »Bestens. Okay. Und wie steht’s in Moskau?«
    »Moskau bleibt Moskau«, erwiderte Mascha. »Schlechte Straßen und viele Idioten. Du fehlst mir. Wenn ich im Geschäft bin, denke ich an dich. Sogar nachts muss ich an dich denken, Kolja.«
    »Sekundochku«,
sagte ich und wechselte ins Russische, eine fast automatische Camouflage, die zweifellos viel auffälliger war, als hätte ich weiter Englisch geredet. Wie ein Teenager, der von seiner Freundin angerufen wird, stürzte ich aus dem Zimmer und verzog mich in die Küche, wo meine Mutter die Telefonnummern ihrer Sprösslinge mit einem Magneten der Durham-Kathedrale an den Kühlschrank gepinnt hatte. Auf dem Fensterbrett lag die Fernsehzeitung für die Weihnachtstage, in der sie Sendungen, die sie sich ansehen wollte, mit tragischen kleinen Sternchen markiert hatte. Wie jedes Mal, wenn ich daheim war, hielt mich eine Zeitverschiebung gefangen, der spontane Rücksprung in die Vergangenheit, der einen Rollen annehmen lässt, aus denen man längst herausgewachsen ist.
    »Ich denke auch an dich«, sagte ich. »Ich habe meiner Familie von dir erzählt, Mascha.« Letzteres stimmte nicht; ich dachte nur, sie würde es gern hören. Ersteres war aber wahr. Ich dachte an sie und hielt sie und mich bereits für das eigentliche Leben, den Rest für etwas, was irgendwie fern und nicht so wichtig schien. Ich wollte ihr alles erzählen, was mir widerfuhr, als wäre es nicht wirklich geschehen, wenn sie nichts davon wusste. Verstehst du, was ich meine?
    Ich erkundigte mich nach Katja, nach ihrer Mutter in Murmansk, nach Tatjana Wladimirowna.
    »Hör mal, Kolja«, sagte sie, »vielleicht willst du etwas mitbringen für Tatjana Wladimirowna, etwas für Silvester. Ich denke, sie bekommt vielleicht nicht so viele Geschenke.«
    »Natürlich«, sagte ich. »Gute Idee. Klar. Und was soll ich mitbringen?«
    »Such du was aus, Kolja. Was Englisches.«
    Wir haben noch über anderes geredet, das meiste habe ich vergessen, aber ich weiß noch, dass sie sagte: »Wir sehen uns bald, Kolja. Ich denke an dich. Ich liebe dich.«
    Ich ging zurück ins Wohnzimmer, und in demonstrativer Gleichgültigkeit wendeten alle den Blick ab. Ich fühlte mich gefangen, wie man sich gefangen fühlt, wenn man im Flugzeug gegessen hat und es auf der Welt nichts Wichtigeres zu geben scheint, als dass die Stewardess endlich

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