Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Euch tun?«
»Bitte, Nikolai Iwanowitsch. Geht zum Haus meines Freundes. Seht Euch um. Ich glaube, da ist wer in seiner Wohnung. Ich war auf der Treppe und hörte sie runterkommen. Bitte.«
Ich schaute Oleg Nikolaewitsch in die Augen, und er wandte den Blick ab. Ich merkte ihm an, wie peinlich es ihm war, mich um Hilfe zu bitten. Im Nachhinein denke ich, es ging ihm bei alldem eigentlich weniger um seinen Freund als darum, eine drohende Veränderung aufzuhalten, gegen die Zeit anzukämpfen. Ich glaube, er wollte sein Leben einfach möglichst lang so bewahren, wie er es kannte – mit seinem Freund, der Katze, den Büchern, all seinen Eigenheiten. Und ich glaube, deshalb blieb er auch in seiner Stadtwohnung, statt sie zu vermieten und von den Einnahmen zu leben, wie es die meisten alten Russen taten, die eine solche Bleibe ihr Eigen nannten (die übrigen, weniger gesicherten Vermögenswerte waren im Gemetzel der neunziger Jahre vernichtet worden). Oleg Nikolaewitsch wollte die Zeit anhalten.
»Also gut«, sagte ich schließlich. »Wo wohnt Ihr Freund?« Er sagte es mir, und ich weiß es heute noch: Wohnung zweiunddreißig, Kalininskaja Nummer neun (eine kleine Seitenstraße zwischen meinem Gebäude und dem Bulwar, der auf der anderen Seite der Kirche vorbeiführte.)
»Ich gehe also nach draußen und nehme den ersten Abzweig nach links; das ist dann die Kalininskaja, gleich bei der Kirche?«
»In Russland«, erwiderte Oleg Nikolaewitsch, »gibt es keine Straßen, nur Richtungen.«
*
Ich setzte mir die Mütze wieder auf, zog erneut die Handschuhe an, ging die Treppe hinunter, die Straße hinauf zum Bulwar und bog dann in die Kalininskaja ein. Es war dunkel, und die einzigen Lebewesen, die ich draußen entdeckte, waren eine Schar fetter schwarzer Krähen, die sich um einen Mülleimer scharten. Das Eis unter den Fallrohren glitzerte schwarz im Licht der Straßenlaternen.
Als ich zur Tür von Konstantin Andrejewitschs Haus kam, tat ich, was Obdachlose in Moskau in eisigen Winternächten tun: Ich drückte die Summer zu sämtlichen Wohnungen. Die Obdachlosen hoffen, irgendwer ist achtlos, mitfühlend oder betrunken genug, sie einzulassen, so dass sie im Treppenhaus schlafen können. Jemand antwortete tatsächlich und riet mir, mich zu verpissen, ließ mich aber trotzdem ein, vielleicht unbeabsichtigt, und ich nahm die Treppe, die sich um den Fahrstuhlschacht in die Höhe wand. Die Tür zu Konstantin Andrejewitschs Wohnung war im dritten Stock.
Ich konnte jemanden atmen hören, klingelte, und eine Männerstimme murmelte irgendwas vor sich hin, dann quietschten Schuhe über das unvermeidliche Parkett. Ich hörte den Mann etwa zwanzig Zentimeter vor der Tür stehen bleiben, dann knarrte ein Ledermantel, als er sich vorbeugte, um mich durch den Türspion anzusehen. Seinem Schnaufen merkte ich an, dass er ein schwerer Raucher war. Er war so nah, dass er mir hätte die Hand geben oder meine Kehle aufschlitzen können.
So standen wir da, von der Tür getrennt, einander unsichtbar gegenüber, doch was mir wie hundert Jahre vorkam, waren vermutlich nur dreißig Sekunden. Dann rotzte er und spuckte aus. Es war, als würde wer auch immer es war, sich genötigt fühlen, so zu tun, als sei er nicht da, während er zugleich deutlich machen wollte, dass es ihn nicht kümmerte, ob jemand wie ich wisse, dass er da war. Ich drehte mich um und ging die Treppe wieder hinunter, langsam erst, dann schnell, zwei, drei Stufen auf einmal, so wie man von einem Bären davonrennt und hofft, dass er nicht merkt, wie sehr man sich vor ihm fürchtet.
Im Erdgeschoss traf ich eine alte Frau, die ihre Post aus einem der übel malträtierten Briefkästen holte.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich auf Russisch, »wissen Sie, wer jetzt in Wohnung zweiunddreißig lebt? In Konstantin Andrejewitschs Wohnung?«
»Je weniger man weiß«, antwortete sie, ohne mich anzuschauen, »desto länger lebt man.«
»Bitte!«
Sie drehte sich zu mir um. Sie hatte scharfe Augen und einen weißen Spitzbart.
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße Nicholas Platt und bin ein Freund von Konstantin Andrejewitsch.«
»Miii-ster Platt«, sagte sie, »ich glaube, in seiner Wohnung lebt jetzt sein Sohn. Jedenfalls wurde mir das gesagt.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Vielleicht.«
»Wie sieht er aus?«
»Kann mich nicht erinnern.«
Draußen fegte der Wind durch die von alten Kaufmannshäusern gebildeten Straßenschluchten und trieb mir Schnee ins Gesicht, bis mir die Nase lief
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