Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
hereinbaten, sollte ich nur noch ein einziges Mal mit Tatjana Wladimirowna allein sein. Heute weiß ich, dass es beim zweiten Mal bereits zu spät war, ich steckte schon zu tief drin, hatte mich von dem, der ich gewesen war, zu weit zu dem entfernt, der ich werden sollte. Doch denke ich, hoffe ich, dass dies für jenen Januarmorgen noch nicht zutraf, jedenfalls nicht so ganz. Die Geschichte – da bin ich mir ziemlich sicher – hätte anders verlaufen können, hätte ich nur ein paar simple Fragen gestellt, statt stumm dazusitzen, zu lächeln und zuzusehen, wie der Schneematsch von unseren Schuhen aufs Parkett tropfte.
Irgendwann fragte ich sie nach Oleg Nikolaewitschs Freund.
»Wenn ich es recht sehe, Tatjana Wladimirowna, sind die Chancen wohl nur sehr gering, aber ich möchte Sie trotzdem etwas fragen: Kennen Sie einen alten Mann namens Konstantin Andrejewitsch? Er wohnt in derselben Gegend wie ich.«
»Einen Moment«, sagte sie, schloss die Augen und presste ihre Finger an die Schläfen. »Konstantin Andrejewitsch … ich weiß nicht genau. Wer ist er?«
»Ein Freund meines Nachbarn Oleg Nikolaewitsch. Wir können ihn nicht finden.«
»Nein«, antwortete sie, »ich glaube nicht. Tut mir leid.«
Wieder schwiegen wir.
»Noch einmal herzlichen Dank für die Kekse und den Tee«, sagte Tatjana Wladimirowna schließlich, um das Schweigen zu brechen. »Es ist schön, Spezialitäten aus England zu besitzen.«
»Vielleicht fahren Sie ja eines Tages selbst mal nach England«, sagte ich, »und sehen Buckingham Palace, den Tower of London.«
»Ja, vielleicht.«
Die Anwälte riefen uns herein. »Der Nächste bitte.«
In einem schmalen Raum saßen zwei Frauen an ihren Tischen. Es gab ein Fenster, erinnere ich mich, und man sah durch rostige Gitterstäbe auf die weißgraue Straße. Es war ein herrlicher Wintertag, der Himmel so strahlend schön und rein wie jenes mediterrane Blau, das du und ich damals bei unserem Urlaub in Italien gesehen haben. Die Frau am rechten Tisch war eher jung, eine Art fehlendes Bindeglied zwischen normalen menschlichen Lebewesen und der Spezies Anwalt. Die ältere Frau, ihre Vorgesetzte – übergewichtig, Brille, haariger Leberfleck – benahm sich so unhöflich, dass man in einem anderen Land hätte glauben können, hier würde mit versteckter Kamera gefilmt.
Sie nahm unsere Pässe und fing an, die gewünschte Vollmacht auszufüllen. Als sie entdeckte, dass mein Name im Pass anders aussah, als ich ihn in ihr Register eingetragen hatte, kreischte sie vor Vergnügen und schwieg geknickt, als ich erklärte, dies läge daran, dass im Pass mein Nachname zuerst stünde. Sobald sie fertig war, stempelte sie die beiden Vertragskopien etwa dreißigmal, schob sie uns ohne aufzublicken über den Tisch zu und sagte, wir hätten ihrer Angestellten vierhundert Rubel zu zahlen. Tatjana Wladimirowna nahm eine Kopie an sich, ich die andere. Somit konnte ich nun den für den Wohnungstausch nötigen Schriftverkehr in ihrem Namen selbst erledigen. Das Wohnungsprojekt war auch mein Projekt geworden.
Wir schlitterten zur Metro zurück, damit Tatjana Wladimirowna nach Hause und ich, verspätet, zur Arbeit fahren konnten. Als wir uns voneinander verabschiedeten, bedankte sie sich und küsste mich auf beide Wangen. Dann watschelte sie zu den Aufzügen.
Aus irgendeinem Grund ist es mir in Erinnerung geblieben – so wie es gelegentlich passiert, ohne dass man es will, sogar vor allem dann, wenn man es eigentlich nicht will –, dass ich unten in der Metro beim Fahrkartenschalter zwei Männer sah, die in einen Streit gerieten, der eine ein großer Russe, der andere ein kahlrasierter, wütender, fast kugelrunder Georgier; und der Russe rief immer und immer wieder sehr laut: ›Gib mir das Messer, Nika, gib mir das Messer.‹
*
An jenem Abend wartete auf dem Treppenabsatz ein bekümmerter Oleg Nikolaewitsch. Ich sah ihm an, dass er auf mich wartete, da er weder Mantel noch Hut trug, also nicht ausgehen wollte und auch nicht von irgendwoher heimgekehrt war. Er stand vor seiner Wohnungstür und sah wie ein Verwandter aus, der damit rechnete, vom Arzt schlechte Neuigkeiten zu hören. Er versuchte zu lächeln und fragte mich, wie es mir ginge. Gut, erwiderte ich, doch sei ich sehr müde. Er kannte kein Erbarmen.
»Nikolai Iwanowitsch«, fuhr er fort, »ich muss Sie erneut um Ihre Hilfe bitten.«
Ich wusste, es ging um den alten Mann. »Oleg Nikolaewitsch«, sagte ich, »verzeiht, aber was kann ich für
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