Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
wir über den dunklen Zirkusflur und setzten uns ins Wartezimmer der Kanzlei. An der Wand hing eine große, stolze Karte der Sowjetunion. Ich sagte mir, dass es zum Job der Anwälte gehörte, uns warten zu lassen. Jeder Russe, der Macht über Menschen hat (ob Anwalt, Krankenwagenfahrer oder Kellner), ist verpflichtet, einen warten zu lassen, ehe er hilft, nur damit man weiß, dass er es kann.
Während wir da saßen, erzählte Tatjana Wladimirowna, dass sie vor über vierzig Jahren in ebendiesem Zirkus gewesen sei. Er hatte zwei Elefanten und einen Löwen, sagte sie.
»Einer der Elefanten stand auf den Hinterbeinen«, erinnerte sie sich lächelnd und hob die Hände wie Hamsterpfoten in die Höhe, um anzudeuten, was der Elefant getan hatte, »und als wir den Elefanten sahen, da wussten wir, dass wir wirklich in Moskau angekommen waren, Pjotr Arkadjewitsch und ich. Da wussten wir, Moskau ist tatsächlich die Hauptstadt der Welt. Ein Elefant!«
Ich fragte sie, ob sie Sibirien vermisste oder das Dorf außerhalb von Leningrad, in dem sie aufgewachsen war.
»Natürlich«, erwiderte sie. »Der Wald. Und die Leute. In Sibirien sind die Leute anders. In Moskau habe ich viel Neues kennengelernt, das ich vielleicht lieber nicht kennengelernt hätte. Und nicht immer ging es dabei um Elefanten.«
Katja schrieb eine endlos lange E-Mail und hörte nur kurz damit auf, um Tatjana Wladimirowna zu sagen, sie solle mich nicht langweilen. Ich erwiderte, ich langweile mich nicht, es sei interessant, was sie erzähle. Das gehörte zu meinen guten Seiten in Moskau – dass ich mich interessiert zeigte, mich kümmerte und irgendwie edler gesinnt war als die meisten ausländischen Anwälte, die hier gewöhnlich nur zwei, drei Jahre abrissen, um dann zurückzufahren und achtbareren Gaunern in London oder New York zu dienen, gelegentlich sogar als Partner von Ganove, Halunke und Co., meist mit einem ansehnlichen Bankguthaben sowie ein paar Titten-und-Kalaschnikow-Geschichten über den Wilden Osten, um sich damit die ewigen Pendlerstrecken zu verkürzen.
Ich fragte sie, wie sie das alles überlebt habe, Stalin, den Krieg und den Rest. Eine blöde Frage, ich weiß, aber die wichtigste Frage.
»Es gab drei Regeln«, erklärte Tatjana Wladimirowna. »Hielt man sich dran, würde man überleben, wenn man Glück hatte.« Sie zählte sie an stummeligen, schrumpeligen Fingern einer Hand ab. »Erstens: Glaube nicht, was sie sagen. Zweitens: Hab keine Angst. Und drittens: Nimm nie einen Gefallen von ihnen an.«
»Es sei denn, es geht um eine Wohnung«, sagte ich.
»Es sei denn, es geht um eine Wohnung.«
»Was ist mit der Wohnung?«, fragte Katja und blickte erneut auf.
»Nichts«, erwiderte Tatjana Wladimirowna und lächelte.
Ich fragte sie, was sie vom augenblicklichen Präsidenten hielt, diesem verschlagenen Fuchs (einem Massenmörder, genau wie alle Führer Russlands, jedenfalls in meinen Augen). Sie sagte, er sei ein guter Mann, nur sei er eben der einzige Gute in einer Schar von Schlechten, und er könne schließlich nicht sämtliche Probleme des Landes allein lösen. Sie dämpfte die Stimme und schaute sich verstohlen um, obwohl sie doch nur Freundliches sagte. Ich fragte daraufhin, ob es ihr denn nichts ausmache, dass die Leute an der Macht offenbar die meiste Zeit damit zubrachten, von anderen Leuten etwas zu stehlen. Na ja, erwiderte sie, natürlich mache es ihr etwas aus, doch habe es keinen Zweck, neue Leute in den Kreml zu wählen, da die mit der Gaunerei nur von vorn anfangen würden. Die, die jetzt das Sagen hatten, seien ja schon reich, also konnten sie es sich leisten, auch mal an andere zu denken.
Ich wollte wissen, ob ihr Leben heute denn besser sei als früher. Ja, sagte sie, die Dinge seien schon besser geworden, zumindest für einige Leute. Und auf jeden Fall auch für die jungen Leute, sagte sie, sah Katja an und lächelte.
Wir schwiegen einen Moment. Katjas Telefon piepte. Sie las die Nachricht, runzelte kurz die Stirn und sagte: »Ich muss los«, beugte sich zu mir, bis ich ihren Atem am Ohr spürte und flüsterte auf Englisch: »Bitte, Kolja, sag Mascha nicht, dass ich geh. Ich muss zur Uni.« Dann stand sie auf und sagte, immer noch auf Englisch, so dass Tatjana Wladimirowna sie nicht verstehen konnte, »vergiss nicht, Kolja, sie ist alte Frau und macht manchmal Fehler.«
Dann zog sie ihren Mantel an und verschwand.
Bis auf diese fünfzehn Minuten in jenem seltsamen Zirkuswartezimmer, ehe die Anwälte uns
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