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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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halbautomatischen Verrichtungen einer resignierten Frau um die sechzig.
    Ich hatte ihr mein Bett überlassen und für mich im Gästezimmer den Futon ausgerollt. Ich hörte sie in mein Zimmer gehen, dann wieder herauskommen und in die Küche tapsen. Sie trug ein altes, knöchellanges, einstmals purpurrotes oder violettes Nachthemd, das längst zu einem Haferschleimgrau verwaschen war, ging an den Kühlschrank, holte sich Wasser, blieb stehen und schaute auf dem Weg ins Bett bei mir vorbei.
    »Was hat er damit gemeint, Nicholas? Dein Nachbar.«
    »Keine Ahnung, Mum. Er hat einen Freund verloren und ist ein bisschen durcheinander. Außerdem trinkt er, glaube ich.« Ich sagte das, obwohl ich dachte, dass es nicht stimmte. Meines Wissens war Oleg Nikolaewitsch stets nüchtern gewesen, wenn ich ihn getroffen hatte.
    Stumm blieb sie stehen, aber sie gab sich Mühe, größte Mühe, das sah ich ihr an.
    »Bist du dir mit diesem Mädchen sicher, Nicholas? Mit Mascha?«
    »Wieso?«
    »Sie scheint mir nur ziemlich … kalt zu sein. Vielleicht zu kalt für dich, Nicky.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin mir sicher.«
    »Und bist du glücklich, Nicholas?«
    Es war die wichtigste Frage, die sie mir in zwanzig Jahren gestellt hatte. Ich dachte darüber nach und gab ihr eine ehrliche Antwort.
    »Ja, ich bin glücklich.«
    *
    Ich schuldete Mascha einen Gefallen, und sie forderte ihn ein.
    Soweit ich weiß, ging es auf Mitte März zu. Den unteren rechten Ärmel meiner plustrigen Michelin-Mann-Jacke überzog eine wie getrockneter Samen aussehende Kruste an der Stelle, wo ich mir monatelang die Nase abgewischt hatte, wann immer ich durch die Straßen gestapft war. Seit dem Abend mit meiner Mutter, also seit gut einer Woche, hatte ich Mascha nicht mehr gesehen. Ich denke, sie war wieder außerhalb Moskaus gewesen, wollte es aber auch diesmal nicht zugeben. Katja hatte ich sogar noch länger nicht gesehen. Wir drei trafen uns in einem Restaurant abseits der Twerskaja, gleich gegenüber den geheizten Fußwegen vor dem Büro des Bürgermeisters. Es war noch unter null, aber Mascha hatte schon wieder ihren herbstlichen Katzenfellmantel an. Katja verspätete sich.
    »Wie fandest du meine Mutter?«, fragte ich Mascha.
    »Für mich es war sehr interessant. Sie ist – wie sagt man auf Englisch? – verängstigt. Sie ist Mensch, der Angst hat. Vielleicht wie du.«
    Sie hatte sich das Haar zurückgekämmt, straff am Kopf anliegend, und in den Augen spiegelten sich die Deckenspots. Sie sah mich an, und ich wandte den Blick ab. Eine Kellnerin kam; wir bestellten Schnitzel und Wodka.
    Ich fragte: »Wie geht es deiner Mutter, Mascha?«
    »Ganz gut«, erwiderte sie, »ist nur immer müde. Sie wird alt.«
    »Ich würde sie gern mal kennenlernen«.
    »Eines Tages, vielleicht.«
    »Und wie läuft es auf der Arbeit?«
    »Ich tue, als würde ich arbeiten; sie tun, als würden sie mich bezahlen.«
    Katja kam. Sie war nur sechs Monate älter als bei unserer ersten Begegnung, aber für ein Mädchen in ihrem Alter waren es lange sechs Monate gewesen. Die Hüften waren voller geworden, die Lippen, selbst ihre Möglichkeiten hatten sich vermehrt. Es waren für uns alle sechs lange Monate gewesen – lang, doch zugleich auch kurz, wie stets im russischen Winter, der einen glauben lässt, er würde niemals enden und ewig währen, bis zum allerersten warmen Tag, und dann fühlt es sich an, als hätte es ihn nie gegeben.
    Katja zog ihren Mantel aus und setzte sich. Ich erhaschte einen Blick auf ein neues
Fuck-me
-Tattoo auf ihrer Hüfte, gleich unterhalb der Bluse.
    »Wie läuft’s mit dem Studium?«, fragte ich.
    »Gut«, erwiderte sie. »Ausgezeichnet. Ich bin im Jahrgang Nummer zwei. Bald fängt das Examen an.«
    Aufgebracht gab sie uns einen langen Bericht darüber, wie am Abend zwei Männer zu ihr in die Straßenbahn gestiegen seien und unter dem Vorwand, Kartenkontrolleure zu sein, von jedem Fahrgast zehn Rubel verlangt hatten. Da kaum jemand ein Ticket vorweisen konnte, zahlten alle, obwohl sie wussten, dass es Betrüger waren.
    »Schrecklich«, sagte Mascha.
    »Schrecklich«, sagte ich, als wäre es das Schrecklichste, was wir uns vorstellen konnten oder wollten.
    Sie hatten mir an diesem Abend zwei Dinge zu sagen. Zum einem – womit sie mir, wie ich heute weiß, die bittere Pille versüßen wollten –, planten sie für Ende Mai, Anfang Juni ein verlängertes Wochenende in Odessa. Ob ich mitkommen wollte?
    »Du erinnerst dich?«, fragte Katja. »Die

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