Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
hätte ständig geschneit – sie warf einen Blick auf mein Geschenk und lächelte –, obwohl sie wisse, dass es Zeiten gegeben haben müsse, in denen es Sommer gewesen war, heiß und hell. St. Isaak, fuhr sie fort, war damals natürlich keine Kathedrale. Die Kommunisten hatten daraus ein Museum des Atheismus gemacht oder ein Schwimmbad, was genau, wisse sie nicht mehr; offenbar verlor sie langsam den Verstand.
»Alles«, sagte sie, »war wie auf den Kopf gestellt. Anfangs hörten wir Radio. Es hieß, wir seien Helden, Leningrad sei eine Heldenstadt, also fühlten wir uns wie Helden. Dann aber wurden die Menschen zu Tieren, verstehen Sie? Und all die übrigen Tiere waren nur noch etwas zum Essen. Wir hatten einen Hund; er war nur ein kleiner Hund, aber wir mussten ihn vor den Leuten verstecken. Gestorben ist er trotzdem, und letzten Endes haben wir ihn dann selbst gegessen. Es wäre besser gewesen, wir hätten ihn gegessen, als er noch dick war!«
Sie lachte – ein kurzes, wildes, russisches Lachen.
»Am reichsten waren die Leute, die viele Bücher besaßen«, erzählte sie. »Die wurden verbrannt, verstehen Sie?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich es natürlich nicht verstand.
»Bücher waren zum Verheizen. Hunde wurden gegessen. Pferde waren auch zum Essen, manchmal sogar, wenn sie noch lebten. Fielen sie auf der Straße um, rannten die Leute mit einem Messer nach draußen. Aus Stiefeln und Schuhen kochte man Suppen.«
Sie hielt inne, schluckte, versuchte weiterhin zu lächeln.
»Ich war im Keller … ich weiß noch, nach dem Krieg, im Kinderlager, da bekam ich ein Eis. Sie sagten, ich hätte Glück gehabt.«
Ich fragte: »Möchten Sie wirklich zurück nach Sankt Petersburg?«
»Vielleicht.« Etwa fünf Sekunden lang schloss sie die Augen, um sie dann wieder aufzuschlagen. »Nein.«
Ich fragte, ob Maschas und Katjas Familien während der Belagerung in Leningrad gewohnt hatten.
»Weiß ich nicht«, sagte sie. »Damals lebten viele Menschen in Leningrad. Zu Beginn natürlich mehr als später.«
»Haben Sie denn nicht zusammengewohnt?«
»Wieso?«
»Ich dachte, sie hätten vielleicht zusammengewohnt.«
»Warum denn?«
»Weil sie verwandt sind.«
»Verwandt? Nein, wir sind nicht verwandt.«
Ja, ich war überrascht, wenn auch vielleicht nicht völlig überrascht. In diesem Moment beschloss ich jedoch, mir nichts anmerken zu lassen. Ich zog es vor, meine letzte Gelegenheit nicht zu nutzen.
»Tut mir leid, Tatjana Wladimirowna«, sagte ich. »Ich habe mich wohl geirrt. Ich dachte, Sie seien ihre Tante.«
»Ihre Tante? Nein«, erwiderte Tatjana Wladimirowna und schüttelte den Kopf, lächelte aber. »Ich habe keine Familie mehr. Niemanden.« Sie wandte den Blick ab und wiegte sich leicht hin und her.
»Woher kennen Sie die beiden dann?«, fragte ich so gefasst wie nur möglich. Ich wollte sie nicht beunruhigen, musste aber die Fakten wissen. »Woher kennen Sie Katja und Mascha?«
»Das war ziemlich seltsam«, sagte sie und rückte sich auf dem Sofa zurecht, als bereite sie sich auf eine lange, spannende Geschichte vor. »Ich habe sie in der Metro getroffen.«
*
Ich komme auf Tatjana Wladimirowna zurück, versprochen, aber erst will ich noch einmal vorgreifen, nur ein paar Stunden. Lass mich dir erzählen, was später am selben Tag geschah. Ich denke, es hilft, mein Verhalten zu verstehen – falls du es denn verstehen willst.
Mir
hilft es allemal: Im Rückblick kommen mir die beiden Begegnungen wie Teile desselben Ereignisses vor, eine einzige kleine, über einen Nachmittag und einen Abend verteilte Offenbarung.
Nachdem wir uns von Tatjana Wladimirowna verabschiedet hatten, begleitete mich Paolo zu einem Treffen mit dem Kosaken und mit Wjatscheslaw Alexandrowitsch, dem Inspektor. Es war ein Sonntag, denke ich, trotzdem mussten wir sie unbedingt sehen. Am darauffolgenden Tag sollten die Banken die letzte und größte Tranche des Kredits freigeben: zweihundertfünfzig Millionen Dollar, plus oder minus eine Million. Der Kosake hatte uns in ein Bürogebäude in der Nähe der alten britischen Botschaft eingeladen, in der Uferstraße direkt am Fluss, gleich gegenüber von den fleischfarbenen Mauern des Kremls. Wie wir später herausfanden, gehörte ihm das Büro gar nicht. Ich bezweifle sogar, dass der Kosake damals überhaupt ein Büro besaß. Er hatte nur seinen Hummer, jede Menge Chuzpe und sein
krischa
.
Wir fuhren im spiegelverkleideten Lift in den dritten oder vierten Stock und betraten ein
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