Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
Vom Netzwerk:
alte Frau mit Regenmantel, im Arm einen kleinen, wie erstarrt aussehenden Hund. ›Leningrad, Heldenstadt‹ prangte in riesigen Lettern auf dem Dach eines gegenüberliegenden Gebäudes. Im Zug starrten wir stumm auf gefrorene Sümpfe und auf Bäume, manche standen, manche lagen, erst kürzlich gefällt, auf harschen, eisigen Lichtungen. Im Abteil roch es nach dagestanischem Cognac, und immer wieder meldeten sich Mobiltelefone mit ihren diversen Klingeltönen. Eine Kellnerin kam mit einem Servierwagen. Ich bestellte ein Bier und ein Glas Mineralwasser; sie antwortete: »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?«, und sah mir in die Augen, bis ich einen Cognac verlangte. Auf dem Bahnhof in Moskau schien die Hälfte allen menschlichen Abschaums aus dem untergegangenen Reich um die Leninstatue in der Haupthalle angespült worden zu sein.
    Wir fanden ein Taxi, das uns zu meiner Wohnung brachte. »Sehr gemütlich«, sagte Mum und sah sich von der Tür aus um, als fürchte sie weiterzugehen und in meinem Wohnzimmer eine Opiumhöhle oder ein Sadomaso-Verlies vorzufinden. Du weißt ja, wie sie ist, wenn sie zu Besuch kommt, wie sie sich angestrengt bemüht, entspannt zu wirken, aber urteilt und in Gedanken alles umräumt, sobald man nicht hinsieht, als wollte sie die Wohnung stillschweigend meinem Elternhaus angleichen. Was in mir ein Gefühl weckte, als wäre ich meinem Zuhause nie entkommen. Eine Stunde später gingen wir aus, um Mascha im Café Lermontow zu treffen – einem überteuerten, als Bojarenpalast herausgeputzten Restaurant, das von meiner Straße aus gleich am Bulwar in Richtung Puschkin-Platz liegt.
    Wenn ich zurückdenke, glaube ich, Mascha hat sich an jenem Abend geschämt. Dazu war sie durchaus fähig. Irgendwie war ihr meine Mutter zu viel, sie sprengte den Rahmen dessen, was abgemacht war. Dabei benahm sich Mascha keineswegs unhöflich, war nur irgendwie schüchtern und auf eine Weise einsilbig, die ich an ihr nicht kannte. Sie trug schwarze, in die Stiefel gestopfte Jeans, einen schwarzen Pulli, kaum Make-up und sah aus, als wollte sie anschließend eine Bank ausrauben oder in einem Theater die Bühne umräumen. Ihr Outfit schien zu besagen:
Eigentlich bin ich gar nicht hier
.
    »Nicholas hat mir erzählt, dass Sie in einem Geschäft arbeiten«, sagte meine Mutter über den
tourist-trapski
-Borschtsch gebeugt.
    »Ja«, antwortete Mascha. »Ich arbeite in Geschäft, verkaufe Handys. Und Mobilfunktarife.«
    »Klingt interessant.«
    Pause. Suppe schlürfen. Nerviges Gekicher von Edelnutten an einem Tisch in der Ecke.
    »Kolja hat mir gesagt, dass Sie sind eine Lehrerin«, brachte Mascha schließlich heraus.
    »Stimmt, ich war Lehrerin an einer Grundschule«, erwiderte meine Mutter, »aber jetzt bin ich im Ruhestand. Mein Mann war auch Lehrer.«
    Überall gab es Klöße und Piroggen (kleine Teigtaschen, gefüllt mit Hackfleisch und Pilzen), aber nicht genug Wodka.
    »Morgen schauen wir uns den Kreml an«, sagte ich.
    »Ja«, meinte Mascha. »Kreml und der Rote Platz, sehr schön.«
    »Finde ich auch«, antwortete meine Mutter. »Ich bin schon ganz aufgeregt.«
    Kein Nachtisch, nein, danke.
    »Nicholas hat mir gesagt, dass Sie nicht aus Moskau sind.«
    »Nein. Ich bin aus einer Stadt, die heißt Murmansk. Ist sehr weit weg von Moskau.«
    »Gut, dass Sie hier Familie haben.«
    »Familie?«
    »Tatjana Wladimirowna«, sagte ich.
    »Ach so«, sagte Mascha, »ja, wir haben Tante. Das ist sehr gut.«
    Mascha wandte den Blick ab und schaute aus dem Fenster, dann auf die Kronleuchter, Kopien von Lüstern aus dem achtzehnten Jahrhundert.
    »Ich hoffe, Sie kommen uns eines Tages in England besuchen«, sagte meine Mutter, was sie wohl sagen zu müssen glaubte, obwohl ihre Worte vielleicht eher an mich gerichtet waren.
    Mascha lächelte. Das Ganze war die reinste Qual, dann war es vorbei.
    *
    Am nächsten Tag ging ich mit Mum zum Kreml, um Zuckerbäckerkirchen anzusehen, die mächtige, gesprungene Glocke, die nie geläutet wurde, und eine riesige Kanone, die zu groß war, um sie abfeuern zu können. Am Tor versuchten zwei Soldaten, uns um Eintrittsgeld zu erleichtern, zum ›Sonderpreis‹. Anschließend gingen wir zum Ismailowo-Markt, damit Mum einige Souvenirs kaufen konnte in diesem chaotischen Durcheinander von Ikonen, Pottwalzähnen und Kosmonautenhelmen, Papierbeschwerern von Stalins Schreibtisch, Gasmasken, Samowaren, usbekischer Baumwolle und Handgranaten der Nazis, russischer Puppen mit dem Gesicht von Britney

Weitere Kostenlose Bücher