Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
Lippen wurden feucht, als der Wodka sie benetzte. Meine Kehle brannte, die Haut war klamm vor Erwartung, vor lauter Aufregung, die meine Befürchtungen in mir schürte.
»Ich hab keine Angst«, sagte ich.
*
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war die Wand im Treppenhaus blutverschmiert, eine Spur, die sich etwa in Hüfthöhe die Stufen hinaufzog. Vor einer Tür im zweiten Stock knickte die Blutspur nach unten ab, als hätte sich der Verletzte an die Wand gelehnt und wäre zusammengebrochen. Am Boden lag eine kleine Blutlache, daneben stand ein Paar alter, schwarzer Schuhe, ordentlich aufgereiht, die Schnürsenkel gebunden.
Als ich am Morgen wieder nach unten ging, war das Blut von der Wand abgewischt worden, nur die Schuhe standen noch dort. Es sei einer der Alkoholiker aus dem oberen Stock gewesen, wurde mir später gesagt. Er sei gestürzt. Kein Grund zur Sorge, hieß es.
DREIZEHN
E nde März begann der braune Moskauer Schnee zu tauen und wollte erneut gefrieren, als die Temperatur für ein, zwei Tage wieder fiel, hielt sich aber als ekelhafter Matsch –
sliakot
, wie ihn die Russen nennen –, bei dessen Anblick man fast erwartete, dass ein haariger, prähistorischer Arm daraus hervorlangte, um einen hinabzuziehen. Gehweg und Gosse wurden in meiner Straße langsam auch auf der Seite wieder sichtbar, auf die man den Schnee geschaufelt hatte; Zentimeter um Zentimeter zogen sich die Gletscherberge zurück. Ein einzelner Scheinwerfer lugte schließlich aus dem Haufen, unter dem der Schiguli begraben worden war, und blinzelte mich an wie ein trübes, blutunterlaufenes Auge.
Es war Ende März, vielleicht auch der erste Tag im April. Wir wollten uns bei Tatjana Wladimirowna treffen, damit sie den Vorvertrag unterschrieb, den ich dank der von ihr bewilligten Vollmacht ausgearbeitet hatte: Ihre Wohnung am Teich im Tausch für eine neue Wohnung in Butowo, plus fünfzigtausend Dollar; Zeitpunkt der Übergabe ein Tag Anfang Juni. Ich lief durch den Nachmittagsmatsch zu ihrem Haus und weiß noch, dass ich in der Unterführung am Puschkinplatz einen alten Mann Akkordeon spielen sah, im Schoß ein wie betäubtes Kätzchen, doch hatte ich es eilig und gab ihm nichts.
Ich war früh dran. Vielleicht kam ich absichtlich zu früh und wollte vor Katja und Mascha da sein, obwohl ich den Grund dafür nicht hätte nennen können. Nach jenen wenigen Minuten im Wartezimmer der Anwaltskanzlei, als Katja ein besseres Angebot erhalten hatte und gegangen war, saß ich nun zum zweiten Mal allein mit Tatjana Wladimirowna zusammen. Und ehe Katja und Mascha an diesem Nachmittag auftauchten, fand ich heraus, dass Tatjana Wladimirowna nicht ihre Tante war, es auch nie gewesen war, weder im Englischen noch im Russischen, noch in sonst irgendeinem Sinne. Es war meine letzte Gelegenheit.
Ich zog die Schuhe aus. Sie hatte bereits mit dem Packen begonnen. Pappkartons stapelten sich auf dem Flurparkett, noch geöffnet und mit Papieren und Krimskrams vollgestopft (aus einem Karton ragte der Arm eines Leuchters wie der Arm einer Leiche aus einem Sarg), daneben standen ein, zwei dieser riesigen, gemusterten Taschen, wie man sie auf Flughäfen Immigranten schleppen sieht. Im Wohnzimmer schien jedoch nichts angerührt worden zu sein. Fast wie Ausstellungsstücke in einem ›So-lebte-man-früher‹-Museum waren die Fotos aus der Stalinzeit noch da, die Aufnahmen der gelenkigen Tatjana Wladimirowna mit ihrem toten Gatten, dazu die modrigen Enzyklopädien und das mittelalterliche Telefon, ebenso mein Tee im Doppeldeckerbus. Die phantasmagorischen Tiere sahen mich über den Teich hinweg durch den diesigen Nachmittag an. Tatjana Wladimirowna brachte Tee und Marmelade.
Ich gab ihr die kitschige Schneekugel mit der Kathedrale, die ich ihr in Sankt Petersburg gekauft hatte. Sie lächelte wie ein Kind, küsste mich und stellte sie auf den Tisch zwischen dem Telefon und das Bild von ihrem Mann.
Sie fragte, ob mir Sankt Petersburg gefallen habe. Eigentlich hatte ich die Stadt anstrengend und seltsam gespenstisch gefunden, doch rettete ich mich mit einer Notlüge und sagte, Sankt Petersburg sei sehr schön, die schönste Stadt der Welt. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihr einen Anlass bot oder sie von sich aus anfing, doch führte das Gespräch gleichsam zwangsläufig von meinem Stadtbesuch wieder zu ihrer Vergangenheit, nur redeten wir diesmal von der Zeit der Belagerung.
Sie sagte, wenn sie heute an Leningrad zurückdenke, sei es immer kalt gewesen und
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