Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
Vom Netzwerk:
Spears oder Osama bin Laden, Teppichen, malträtierten Tanzbären und traurigen, dicken, bibbernden Damen, die für die Touristen ›Kalinka Malinka‹ sangen. Mum kaufte eine Pelzmütze für meinen Vater und für sich ein kleines, mit russischem Wald bemaltes Schmuckkästchen. Ich nahm mir den Montag frei, und wir fuhren zum Friedhof Nowodewitschi, wo Chruschtschow und andere Parteigrößen in protzigen Gräbern beerdigt liegen. Furchtlose Kinder stürzten auf selbstgebauten Schlitten die Hänge an den Wänden des angrenzenden Klosters zum zugefrorenen Teich hinab, während sich die späte Wintersonne in den silbrigen Kuppeln spiegelte. Auf dem Heimweg fuhren wir zur Metrostation Majakowskaja mit ihren leuchtend bunten Bildern von Zeppelinen, Fallschirmspringern und Kampfflugzeugen sowie den dezent darum herum verstreuten Hammer-und-Sichel-Insignien, für deren Beseitigung noch niemand Zeit gefunden hatte.
    Am Abend gingen wir in die Bolschaja Nikitskaja zu einem klassischen Musikkonzert im großen Saal des Konservatoriums mit seinen entlang der Wände aufgereihten, schlechten Komponistenporträts. Anfangs gab es einen kleinen Tumult, da zwei alte Frauen auf unseren Plätzen saßen und nur mit Hilfe eines grimmigen Saaldieners bewegt werden konnten, unsere Plätze freizugeben. Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, erinnere mich aber, dass ich nach der Pause einmal zu meiner Mutter hinüberblickte und im Schoß ihre gefalteten Hände sah, die Daumen, die sich umeinanderdrehten, wobei mich plötzlich das Gefühl überkam, Mum zu sehen, als wäre sie noch immer das Mädchen in den kalten Waliser Ferien – die Person, die sie war, ehe sie meine Mutter wurde, und ich begann zu ahnen, wie wenig ich sie eigentlich kannte.
    Wir liefen zu Fuß heim, über die Bolschaja Nikitskaja zu dem Gebäude, das einer dieser verlogenen russischen Nachrichtenagenturen gehört, groß, mit Aquariumsfenstern, dann den Bulwar entlang. In meiner Straße war der halbe Bürgersteig wie ein Tatort mit Plastikband abgesperrt, das sich von Metallstange zu Metallstange schwang, um Fußgänger vor tödlichen Eiszapfen zu schützen, die absichtsvoll von Dachtraufen herabhingen. Der Schneehaufen, unter dem der orangefarbene Schiguli lag, glich einem eingefallenen Iglu, noch eher einem Begräbnishügel, und war mit Abfall übersät, mit halb vergrabenen Flaschen und um ihr Überleben kämpfenden Zweigen.
    Oleg Nikolaewitsch stand vor seiner Tür, eine Tüte in der Hand, die nach Katzenstreu roch, und er lächelte matt wie ein verurteilter Aristokrat auf dem Schinderkarren. Ehrlich gesagt, ich hatte mir inzwischen angewöhnt, ihm aus dem Weg zu gehen, damit ich nicht über seinen vermissten Freund reden oder die Enttäuschung in seinen Augen sehen musste. Meist fuhr ich mit dem Fahrstuhl, um den Treppenabsatz zu meiden, auf dem er sich oft aufhielt, was ihm bestimmt nicht entgangen sein dürfte.
    »Oleg Nikolaewitsch«, sagte ich, »das ist Rosemary, meine Mutter.«
    »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Oleg Nikolaewitsch auf Russisch, ergriff ihre Hand, und ich glaube, er wollte sie küssen, besann sich aber doch eines Besseren. In stockendem Englisch fragte er dann: »Wie gefällt Ihnen unser Russland?«
    »Sehr gut«, antwortete sie so laut, wie manche Engländer mit Ausländern reden, als wären die alle ein bisschen taub. »Wirklich ein schönes Land.«
    Da standen wir und drohten in der unkontrollierbaren Hitze der Zentralheizung, an unserem guten Willen und dem Schweigen zu ersticken. Ich erinnere mich noch, dass Oleg Nikolaewitschs Augen blutunterlaufen waren, fast als hätte er geweint.
    »Keine Spur von Konstantin Andrejewitsch?«
    »Nicht der kleinste Hinweis«, erwiderte Oleg Nikolaewitsch.
    »Und wie geht es George?«
    »George ist im März immer unzufrieden.«
    »Und wie geht es Ihnen, Oleg Nikolaewitsch?«
    »Im Königreich der Hoffnung«, erwiderte Oleg Nikolaewitsch, »herrscht niemals Winter.«
    Ich wünschte ihm einen guten Abend, meine Mutter ebenso, und wir wandten uns ab, um nach oben zu gehen, als Oleg Nikolaewitsch die Tüte mit Katzenstreu fallen ließ und meine Mutter am Mantelärmel fasste.
    »Bitte, Mrs Platt«, sagte er auf Englisch in seltsamen Bühnenflüsterton, »passen Sie auf Ihren Sohn auf. Passen Sie gut auf ihn auf.«
    *
    Sobald wir in der Wohnung waren, verschwand Mum im Bad. Ich saß in der Küche, hörte Wasser ins Becken laufen, die Toilettenspülung, Zahnputzgeräusche, die schlichten,

Weitere Kostenlose Bücher