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Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Die eiskalte Jahreszeit der Liebe

Titel: Die eiskalte Jahreszeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.D. Miller
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oder aber, man sei bereits wach, während man in Wahrheit noch schlief.
    Wir brachten anderthalb Tage damit zu, uns in der Eremitage Rembrandts und Vergoldungen anzuschauen, trippelten an gefrorenen Kanälen entlang (»Ich habe ja nicht geahnt, dass es
so
kalt sein würde«, bemerkte meine Mutter blöde) und unsere Nasen in die gelben, widerwärtigen Sankt Petersburger Hinterhöfe mit ihren bibbernden Katzen und vereisten Abfallhaufen zu stecken. Wie es sich gehörte, warfen wir einen Blick in die Kirchen, die allesamt von Bettlern belagert wurden – von Betrunkenen und von verkrüppelten Soldaten, von Betrunkenen, die sich als Soldaten ausgaben, von echten, unverkrüppelten Wehrpflichtigen im Teenageralter, die, bildete ich mir ein, auf den Straßen bettelten, um ihre vorgesetzten Offiziere mit Wodka zu versorgen – Kirchen mit Ikonen, Weihrauch, vergrämten, Kopftuch tragenden Weibern und dem Dunst uralter Vorurteile. Dazu jene alte, süchtig machende Droge, das Crack für die Seele, das die russische Kirche zu verscherbeln scheint: die Vorstellung, das Leben in dieser rauen Gegend könnte schön sein.
    Ich erzählte von meiner Arbeit, von Paolo und ein wenig auch vom Kosaken, doch sie verlor das Interesse, als ich mich über Narodneft und Projektfinanzierung ausließ. Und sie erzählte mir, dass sie sich Sorgen um meinen Vater mache – nicht um seine Gesundheit, sagte sie, zumindest nicht allein um seine Gesundheit. Dann fing sie an, von ihrer Kindheit zu reden, von ihrer und der meines Vaters. Dessen Vater wiederum sei nach dem Krieg aus der Marine entlassen worden, in Gedanken aber stets woanders geblieben, weshalb sie sich heute sagte, dass dies vielleicht die Distanz zwischen meinem Vater, mir und meinen Geschwistern erklärte. Sie ging nicht weiter darauf ein, und ich hakte nicht nach. So war es an diesem Wochenende zwischen uns: Wir fingen Gespräche an, die zu Vertraulichkeiten und Nähe hätten führen können, brachen sie aber stets rechtzeitig wieder ab. Sie erzählte endlos lange von sehr kalten Ferien, die sie in den fünfziger Jahren mit ihren Eltern in Wales verbracht hatte, und davon, wie ihr Vater, ein Eisenbahner, den ich nie kennenlernte, ein Picknick mit ihnen mitten in einem Hagelschauer gemacht hatte. Es schneite. Immer wieder beschlug ihre eulenhafte Brille. Ihre Stiefel waren peinlich.
    Unten am Fluss schimmerte der Winterpalast im frühen Sonnenuntergang wie eine rosige Halluzination. Der Bronzene Reiter hatte Schuppen. An einem Kiosk blieb ich stehen und kaufte für Tatjana Wladimirowna eine dieser kitschigen Schneekugeln mit einer Miniaturausgabe der Sankt-Isaaks-Kathedrale. Ich glaube, auf seltsame Weise fehlte sie mir.
    »Ein Geschenk«, erklärte ich. »Für eine Bekannte.«
    »Aha«, sagte meine Mutter. Während wir entlang eines froststarren Kanals über den vereisten Bürgersteig schlitterten, warf sie mir einen Seitenblick zu. Ich merkte meiner Mutter an, dass er vieldeutig und dies ein erwachsener Moment zwischen uns sein sollte, doch gelang ihr der Blick nicht recht, weshalb sie verwirrt die Augen niederschlug.
    »Nein«, sagte ich, »das ist für Tatjana Wladimirowna, eine Frau, die ich kenne und die früher in Sankt Petersburg gelebt hat.«
    »Ach ja?«
    »Maschas Tante.«
    »Mascha … hat sie dich Weihnachten angerufen?«
    »Ja.«
    »Aha.«
    Wir gingen zurück zum Newski-Prospekt. Es war etwa minus zehn Grad. Ich fand schon immer, dass der Winter im März irgendwie schlimmer wird, da man das Ende schon zu sehen meint und sich verzweifelt danach sehnt, fast wie Soldaten, deren Angst wächst, wenn sie wissen, dass der Krieg bald zu Ende geht.
    »Schön, Nicholas, dass du ihre Familie kennenlernst.« Ich glaube, dass war ihre Art, mich zu fragen, ob es etwas Ernsthaftes war.
    »Bislang nur ihre Schwester. Ihre Kusine, meine ich. Und ihre Tante. Die wohnt in Moskau ganz in meiner Nähe. Erst vor kurzem hat sie für uns Pfannkuchen gebacken.«
    »Wie nett«, sagte sie. »Pfannkuchen.«
    Ich denke, sie war neidisch – ich denke, Rosemary war neidisch auf Tatjana Wladimirowna. Grund dazu hatte sie ja. Schließlich hatte ich mit der alten Dame in den letzten Monaten mehr Zeit verbracht als mit meiner Mum in den letzten vier Jahren. Was hieß, dass nur eine von ihnen mitbekam, was aus mir geworden war. Zum Glück habe ich sie nicht miteinander bekannt gemacht.
    *
    Wir fuhren mit dem Zug, eine fünfstündige Fahrt am Nachmittag. Vor der Station in Sankt Petersburg stand eine

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