Die eiskalte Jahreszeit der Liebe
in welchem Stress er steckte: Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und fing an, auf Italienisch zu fluchen. Den Kosaken nannte er nur noch ›dieser Freund von Nicholas‹. Im Büro mieden ihn die Leute und starrten nervös auf die roten Ziffern über der Fahrstuhltür, sehnten ihr Stockwerk herbei, falls sie mit ihm in der Kabine standen.
An dem Tag, an dem der Bescheid kam, konnte ich nicht aus dem Büro, weshalb ich nicht da war, um zu sehen, wie Tatjana Wladimirowna loszockelte, in einer Plastikeinkaufstasche, so zumindest malte ich es mir aus, Rubel im Wert von fünfzigtausend Dollar, zurück in die Wohnung, in der sie vierzig Jahre gelebt hatte und in der sie hoffte, noch einige Wochen bleiben zu können. Definitiv aber musste es zehn Tage später passiert sein, Mitte Juni, wenn die Tage am längsten sind und der Winter kaum mehr als ein Traum zu sein scheint. Diesen Teil konnten sie nicht türken. Die Bank war verantwortlich; ihre Angestellten hätten nur an sie ausgezahlt. Also musste sie das Geld gehabt haben, zumindest zu Beginn.
Ehe ich mich an jenem Tag verabschiedete, an dem im Gewölbekeller das Geld gezählt wurde, hatte Tatjana Wladimirowna uns ein letztes Mal zu sich eingeladen. Von der Bank aus war es nur ein kurzes Stück. Die Kisten standen ordentlich gestapelt im Flur. Teller und Urkunden waren von der Wand abgenommen worden. Im Spülbecken lag ein Strauß Blumen, den Tatjana Wladimirowna, wie sie erzählte, zusammen mit einem Radio von ihren Kollegen im Museum bekommen hatte, als sie letzte Woche mit ihrer Arbeit dort aufhörte.
Sie gab mir auch ein Geschenk. Sie sagte, sie habe zu viel und wisse nicht, ob es in Butowo dafür genügend Platz gebe. Und welchen Nutzen habe sie schon von all dem Kram? Sie wollte, dass mir eine Erinnerung an unsere Freundschaft blieb. Es war das Foto von ihr im Gymnastikrad, aufgenommen, als sie noch vier Jahrzehnte kommunistischer Lügen und Mangelwirtschaft vor sich hatte, dann ein Jahrzehnt der Hoffnung, noch mehr Lügen, noch mehr Mangel, und schließlich Mascha, Katja und mich. Ich wollte es ablehnen, aber sie bestand darauf, dass ich es annahm. Ich glaube, du hast das Foto einmal in einer Schublade entdeckt und gefragt, wer das sei, und ich habe irgendwas von Souvenir gemurmelt, eigentlich aber keine Antwort gegeben. Von allem, was ich besitze – zugegebenermaßen nicht viel für einen Mann meines Alters und Einkommens –, ist das Foto von Tatjana Wladimirowna in ihrer schwarzweißen Jugend das, was ich am liebsten verlöre, der Besitz, dem ich nur zu gern entkäme, doch will es mir irgendwie nicht gelingen.
SECHZEHN
W ie gesagt, es war der Geruch.
Die Blumen standen wieder in ihren Beeten in der Mitte des Bulwars, knallbunte Regimenter Tulpen und Stiefmütterchen. Einem geheimen Paragraphen der russischen Verfassung zufolge hatte die Hälfte der Frauen unter vierzig angefangen, sich wie Prostituierte zu kleiden. Sah man hinüber zum Fluss und dem Hotel Ukraina, bildeten Wärme und Abgase diesige Luftspiegelungen über den Casinos entlang der Nowi Arbat. Es war Mitte Juni, und Konstantin Andrejewitsch roch.
Ich hatte früh am Abend meine Wohnung verlassen und war, wie ich mich erinnere, auf dem Weg, um Steve Walsh im American Diner am Majakowskaja-Platz zu treffen. Als ich die Treppe hinab zu Oleg Nikolaewitschs Stockwerk ging, sah ich George auf der Türmatte sitzen. Er war ein alter, arthritischer, weißer Kater mit rosigen Ohren und irritierend rosafarbenen Augen, so fett, als wäre er schwanger, doch mit einem knochendürren Schwanz. Er starrte die Wand an, als litte er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ich beugte mich über ihn und klingelte bei Oleg Nikolaewitsch, mehr als einmal, doch niemand rührte sich. Georges Blick aus rosafarbenen Augen traf sich mit meinem Blick. Ich ließ ihn sitzen, ging die Treppe hinunter zur Haustür und trat in die laue Abendluft.
Oleg Nikolaewitsch sah ich zuerst. Er kehrte mir den Rücken zu, doch wie er da in seinem zerknitterten Anzug stand, den Kopf gesenkt, als wollte er beten oder weinen, wusste ich, dass er es war. Um ihn herum bewegten sich Leute und redeten, er aber blieb vollkommen reglos, allein, und niemand redete mit ihm.
Die Menge blockierte meinen Blick, der Geruch fiel mir allerdings sofort auf – dieser Verwesungsgeruch, der Konstantin Andrejewitsch verraten hatte. Aus etwa zehn Metern Entfernung sah ich seinen Fuß.
Ich sah nur den einen, wie er aus dem Kofferraum des
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