Die Eisläuferin
Aber ohne sie auch nicht.«
Sie sahen sich erschrocken gegenseitig an, als sei ihnen diese Erkenntnis gerade erst gekommen.
»Das Fortbestehen der Koalition steht auf Messers Schneide. Da können wir nicht den Erstbesten nehmen.«
»Schon die letzte Oberhauptspersonalie war die reinste Zappelei. So etwas macht der Wähler nicht noch ein zweites Mal mit. Die nehmen uns doch nicht mehr ernst!«
»Und was hält uns schließlich noch zusammen außer der nackten Angst vor Neuwahlen?«
»Die können wir nicht riskieren. Das steht fest.«
»Warum machen wir nicht einfach weiter wie bisher? Und präsentieren sie einfach etwas seltener.«
»Vielleicht braucht das Volk tatsächlich dringend Erholung von seiner Exekutive. Es möchte womöglich gar nicht pausenlos regiert werden.«
»Brauchen Sie Urlaub?«
»Ich? Nein. Wieso?«
»Dann hören Sie auf mit solchen Vorschlägen. Wir können uns nicht den geringsten Rückzug erlauben.«
»Noch jemand Wasser? Soll ich Kekse kommen lassen?«
»Mit dem vorhandenen Personal habe ich da große Zweifel.«
»Wie bitte? Das ist doch ein ordentliches Hotel mit Zimmerservice, oder nicht?«
»Ich meinte das anders.«
»Wir sind in einem tieferen Schlamassel, als wir alle gedacht haben.«
|50| »Wir als Volkspartei haben eine komplizierte Architektur, und jede Regierungsphase ruht auf einer fragilen Statik. Wir müssen behutsam vorgehen.«
Er stand langsam auf, wollte das alles nicht hören, sich verabschieden, wieder zu ihr ans Bett gehen, ihre rechte Kopfseite etwas massieren.
»Sie bleiben bitte hier. Vielleicht brauchen wir noch Gesprächstermine mit den Ärzten.«
Noch bevor er sich wieder gesetzt hatte, ging die Debatte weiter. Er wickelte sich ein Pfefferminzbonbon aus dem Orient-Express aus. Es waren nur etwas über zwei Wochen vergangen seit der Misere mit dem Bahnhofsschild, und es kam ihm schon jetzt vor wie eine Ewigkeit. Die Zeit, die seiner Frau momentan schlicht und einfach fehlte, schien er doppelt gelebt zu haben.
»Wenn wir uns jetzt von ihr trennen, trauen sich die anderen vielleicht auch, sich von dem ihrigen zu trennen?«
»Was sind denn das für Vorschläge? Die Frau ist doch äußerlich gesund und kann reden. Sie hat noch nicht einmal ein Verhältnis, keine einzige Eskapade. Was wollen wir mehr?«
»Das ist vielleicht gerade das Problem. Oder was wollen Sie sagen?«
»Nein, ich sage ganz einfach: Trial and Error, kommen Sie, das ist doch nicht das erste Mal, dass wir so etwas machen! Wenn alle Stricke reißen, setzen wir sie einfach jeden Morgen neu auf die Schiene. Dann dauert die Morgenlage eben etwas länger, und für den Rest verweisen wir verstärkt auf Ressortzuständigkeiten.«
»Das ist nicht Ihr Ernst, das wird der reinste Drahtseilakt im Nebel!«
»Aber wir haben nun einmal nur die eine Seiltänzerin.«
»Da ist was dran. Pannen passieren, aber Katastrophen |51| werden gemacht! Die haben wir immer noch hinbekommen. Ich sage Ihnen, wir kriegen das in den Griff, und zwar eher mit ihr als ohne sie, wie es aussieht.«
»Neustart nennt man so etwas. Also los.«
»Das klingt ein bisschen nach Monopoly.«
»Ganz genau! Wunderbar! Damit haben wir gleich einen schönen kurzen Begriff, der sich in der Öffentlichkeit plakativ einsetzen lässt.«
»Monopoly?«
»Nein, Neustart. Neustart! Wir stellen den Mut zur Zukunft der Verzagtheit entgegen. Jetzt erst recht. Notieren.«
»Schluss mit lustig. Vor uns liegen große Aufgaben!«
»Das ist es, drucken wir gleich ab. Wir starten mit einer persönlichen Anzeigenkampagne mit Foto und Unterschrift von ihr in den Zeitungen.«
»Wir geben auf neue Fragen neue Antworten.«
»So ist es. Die anderen haben sich schon oft genug reformiert. Jetzt sind wir auch mal dran.«
»Wenn wir das schaffen, schaffen wir alles!«
»Und wir können ja jetzt auch innerparteilich mal ein bisschen mehr Einfluss nehmen, nicht wahr?«
Die Stimmung hob sich. Ihm wurde schwindlig, und er wollte jetzt unbedingt weg. Die Glasplatte, auf die er starrte, war vor lauter schwitzigen Fingerspielen schon ganz blind. Wie sollte das alles gehen? Er räusperte sich: »Darf ich einen Vorschlag machen?«
Man schien vergessen zu haben, dass er sich überhaupt noch im Raum befand, und die Köpfe schnellten überrascht in seine Richtung. »Nun, ich denke, Sie sollten meine Frau vielleicht erst einmal besuchen, sie sehen. Das würde das Ganze, wie soll ich sagen, vielleicht etwas substantieller machen, dem Problem wieder ein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher