Die Eisläuferin
uns!«
»Ich gebe zu, es ist keine besonders sanfte Behandlungsmethode, aber früher oder später muss sie zurück in ein Stadium der Normalität. Sie braucht eine präzise, fordernde Aufgabe, ihr Hirn wird sich sonst auf eine Fahrt ins Blaue begeben. Lassen Sie sie nicht in ihrer Vergangenheit zurück, in der Hoffnung, dass sich die Dinge von allein erledigen. Sie müssen sie da herausholen, jeden Morgen.«
Er schloss die Augen. Vielleicht würde sie aufhören zu reden.
Sie fuhr fort: »Wissen Sie, Erinnerungen kommen am ehesten wieder durch möglichst realistische Interaktions-Reaktionen. Wir kennen das aus der Täterdiagnostik, wenn der Delinquent wieder an den Tatort geführt wird. Hatte sie nicht gerade erst Besuch von ihrem Team?«
Die junge Ärztin ging zum Fenster und öffnete es. Draußen war es überraschend ruhig, obwohl die Klinik mitten in der Stadt lag. »Wissen Sie, unsere Erinnerungen formen unseren Alltag in der Gegenwart mit, und wenn die Erinnerungen etwas älter sind, heißt das nicht automatisch, dass man dadurch völlig alltagsuntauglich wird. Die Reaktionen Ihrer Frau auf gewisse Dinge werden andere sein, aber nicht notwendigerweise die falschen.«
|58| Er nahm ihre Äußerungen kaum wahr, sein Blick verlor sich in einem kleinen Strauß roséfarbener Plastikrosen auf ihrem Schreibtisch. Die Erinnerung, die seiner Frau in ihrem jetzigen Zustand am gegenwärtigsten war und die sie tief in ihrem Herzen berührt hatte, war, sofern er das rekapitulieren konnte, eine Wahlbeteiligung von 93,30 Prozent bei den letzten Wahlen im Aufbruch zur Demokratie. Wenn es das war, womit sie morgens aufwachte, war das sicher kein schlechter Start in jeden neuen Tag, fand er. Alles andere aber würde schwieriger werden.
»Und fast hätte ich es vergessen: Welche Frisur hatte Ihre Frau vor zwanzig Jahren?«
Die Ärztin stellte ihm mittlerweile Fragen, die jeglicher Grundlage entbehrten, fand er. »Herrje, an was soll ich denn noch alles denken? Die Frisur? Was tut denn die zur Sache? Sie hatte keine Frisur!«
Sie blieb ruhig: »Kurze Haare? Wir können das nachprüfen. Wissen Sie, wenn Ihre Frau morgens aufwacht, möchten wir akute erste Stresssituationen vermeiden. Am besten, Sie legen sich für solche Fälle schon einmal ein paar beruhigende Sätze zurecht.«
Er hätte genauso gut die ganze Geschichte an dieser Stelle enden lassen und seine Frau dazu bringen können, der Politik und ihrem Handy Adé zu sagen – aus Gründen der höheren Gewalt, und eine akute Amnesie, die ärztlich attestiert war, zählte er dazu. Die Versuchung war groß.
Doch so ganz entschlossen war er nicht, er zögerte, spürte, dass er den Fortgang der Reise irgendwie weitertreiben musste, und zwar ihr zuliebe. Denn wenn ihr Gedächtnis irgendwann doch zurückkäme, würde sie ihm furchtbare Vorwürfe machen, würde sich fühlen wie eine hoch prämierte Springderby-Stute, die sich zu früh auf einem Ferien-Ponyhof |59| wiederfindet, während andernorts halbwüchsige Hengste das Rennen bestreiten.
»Ich will Ihnen etwas Mut machen.« Die Ärztin schien ihn eine ganze Weile still beobachtet zu haben. »Mag Ihre Frau ihren Job?«
Er stutzte, als hätte sie gerade in einen Ballon gepiekst. Diese Frage war so obsolet wie die nach dem Grund von Katalyseprozessen in Zeolithsystemen. »Aber selbstverständlich will sie den Job. So wenig, wie Sie sich das vorstellen mögen, so wenig kann sie sich vorstellen, das Amt jetzt einfach niederzulegen. So ist sie nicht. Je schwieriger die Dinge werden, desto mehr hängt sie an ihnen. So war sie immer.«
Die junge Ärztin schaute aus dem Fenster, und es sah so aus, als kämen ihr seine Äußerungen bekannt vor, vielleicht hatte sie ein ähnlich vertrautes Verhältnis zu schwierigen Dingen. Sie drehte sich wieder zu ihm um: »Entschuldigen Sie, ich frage das nur, weil wir wissen, dass man sein Hirn nicht über einen längeren Zeitraum zu etwas zwingen kann, was es nicht mag. Wenn man es dennoch tut, übernehmen irgendwann die tieferen, älteren und robusteren Ebenen wieder das Kommando im Kopf. Das Hirn braucht Freude, um zu funktionieren!« Sie setzte sich wieder auf die Schreibtischkante und beugte sich zu ihm herüber, schnipste an einem der Plastikröschen. »Entfachen Sie Begeisterung in Ihrer Frau, sprechen Sie die emotionalen Zentren in ihrem Gehirn an. Beginnen Sie mit den kleinen Dingen, Sie müssen ihr ja nicht gleich den harten Stoff liefern!« Das Röschen wippte noch lange
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