Die Eisläuferin
»Nun, das ist ja sehr interessant. Das wird nicht einfach, aber man muss ja nicht aus jeder Herausforderung gleich eine Krise machen. Es gibt durchaus Schlimmeres. Oder?« Es reichte dann noch zu einem knappen »Was jetzt ist, das |66| ist jetzt eben«, aber dann kamen die Emotionen, kämpften sich in ihr nach oben wie eine Meute Guerillakämpfer mit ADHS. Ihr Mund öffnete sich und entsandte einen lauten, hysterischen Schrei aus der Tiefe des Unterbewussten. Er war klar und kräftig, variierte in der Tonlage, wollte vor allem nicht mehr aufhören.
Herr Bodega steckte den Kopf ins Zimmer: »Entschuldigung, alles in Ordnung hier?«
»Ja, keine Sorge, meine Frau bringt gerade ihr Amt zur Welt.«
»Ach so.« Die Tür schloss sich wieder.
Er kniff sie in den Oberarm, um das zu stoppen, was da so unüberhörbar aus ihr herauskam. Er hatte sie vor Omsk nie schreien gehört. Es war ein Laut, den er an ihr nicht kannte. Beachtlich, dachte er in der Verzweiflung des Moments, früher hatte er sie kneifen müssen, damit sie überhaupt etwas sagte. Sie holte ein letztes Mal tief Luft und schloss den Mund, ihre Gesichtszüge entspannten sich, sie wirkte geradezu befreit. Der Kehlkopf hatte offenbar ganze Arbeit geleistet und mit dem Schrei noch allerhand andere Dinge an die Luft befördert. Er ging zum Fenster und öffnete beide Flügel weit. Ein Windzug ging durchs Zimmer.
»So, das hätten wir, Liebes. Fünfzehn Minuten insgesamt, das ist nicht schlecht. Was denkst du?«
»Gar nichts. Ich habe Angst.«
»Brauchst du nicht zu haben. Du bist Regierungschefin.«
»Ich bin völlig von der Rolle, huch, mein Herz klopft bis zum Hals.« Sie wurde stutzig: »Was hast du da gerade gesagt?«
»Was meinst du?«
»Na, das mit der Regierungschefin.«
»Liebes, das haben wir doch jetzt gerade alles mühevoll durchexerziert …«
|67| »Ihr wollt mich tatsächlich wieder hinausschicken? Ins Land? Das kommt nicht infrage!«
»Hast du etwa eine andere Idee? Die haben keinen anderen Kandidaten, setzen ihr ganzes Vertrauen in dich, und die Legislaturperiode ist ja nicht mehr lang.«
»Nein. Das ist ein Fehler, die reinste Fahrlässigkeit.«
»Egal, was du auch machst, sie werden einen Fehler daraus machen, glaube mir. Denk doch auch einmal ein bisschen an die Partei, an das Land, dein Vermächtnis, an den, nun ja, demokratischen Aufbruch, sozial und ökologisch.«
»Und wer denkt an mich? Woran soll ich mich denn orientieren? An den Duftspuren meiner Vorgänger, wie eine instinktgesteuerte Fruchtfliege?«
»Liebes, du musst es jetzt nur wollen, du musst dein Herz über die Hürde werfen.«
»Was soll ich?«
Er schüttelte den Kopf, begann nochmals von vorn: »Kannst du dir etwas anderes vorstellen? Willst du Patchworkdecken nähen oder ohne Kamerateams in die Forschung gehen?«
»Nein?« Sie war sich nicht ganz sicher.
»Siehst du. Du musst jetzt so normal wie möglich weiterleben, einfach leben. Nur so kannst du deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.«
»Das verstehst du unter normal?« Sie klopfte mit den Fingern auf den Bildschirm, in dem eben noch ihr Ebenbild eine Koalitionsvereinbarung unterschrieben hatte, bevor ihr ein Blumenstrauß die Sicht nahm. »Du konfrontierst mich hier mit vollendeten Tatsachen!«
»Das haben Tatsachen so an sich, Liebes, und vor allem sind es ja auch deine, ob sie dir nun gefallen oder nicht. Wer große Herausforderungen bewältigen will, muss die Wahrheit in den Tatsachen suchen.«
|68| Sie guckte ein wenig pikiert.
Nein, er musste es anders versuchen: »Sieh mal, du bist kein klassisches Parteigewächs, schon damals hat man dich als Garantin für einen Neuanfang gesehen. Und jetzt ist das eben wieder so. Nur eben anders.«
»Na, toll. Soll ich es halten wie Clint Eastwood? Ich reite in die Stadt, und alles andere ergibt sich?«
Er unternahm einen letzten Versuch: »Verstehst du denn nicht, du bist gerade mittendrin in der Politik wie die Spinne im Netz, und das nicht nur für eine Übergangsphase, wie so viele Parteipatriarchen das damals angenommen haben, eine Frau halt mal. Ist dir klar, dass du Konrad Adenauer an Amtsjahren noch übertreffen kannst – als Frau halt mal?«
»Was ist bloß aus dem Aufbruch geworden?«
Gute Frage eigentlich. Doch er verstummte, denn im selben Augenblick wurde ihm klar, dass die Mühen seiner Argumentation an diesem Tage greifen, aber am nächsten bereits Schall und Rauch sein würden. Er musste zum Punkt kommen, damit dem Rest des
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