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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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und dann nochmals an sich hinunter, bemerkte den Ring an ihrem Finger. »Mein Gott, seit wann sind wir denn verheiratet?«
    Er war es so leid. Jeden Morgen dieselbe enttäuschte Hoffnung, dass sich ein kleines, verheißungsvolles Erinnerungsfenster aufgetan haben könnte, das ihre Reaktionen weniger drastisch ausfallen ließ   … Also nahm er wieder ihre beiden Hände, legte sie in ihren Schoß und seine darauf: »Du musst jetzt stark sein, Liebes.«
    »Die Stasi! Der KGB?«
    »Nein, Omsk.« Er hatte sich angewöhnt, schnell zu sprechen, um möglichst viele Informationen in eine Sprechphase zu legen. Der Tag war kurz. Sie wusste nicht, was er meinte, fragte, ob ihm nicht wohl sei, und er fuhr schnell fort: »Du hattest vor einigen Tagen einen Unfall während unseres Urlaubs in Sibirien. Dort ist dir ein altes Bahnhofsschild auf den Kopf gefallen, in Omsk eben, und seitdem hast du dein Gedächtnis verloren. Ansonsten bist du kerngesund, du kannst dich bloß nicht an die letzten zwanzig Jahre erinnern. Aber das kriegen wir hin.«
    Er hätte nie gedacht, wie schäbig und gleichzeitig geradezu lächerlich man sich vorkommen konnte, wenn man einfach |64| nur die nackte Wahrheit sagte. Aber das Leben konnte eben wahrhaft tragisch sein, man musste nur einmal nach Sibirien reisen, und mit ein wenig Pech machte einem der Zufall einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Ein Nagel, vielleicht war es nur ein einziger verdammter rostiger sibirischer Nagel gewesen.
    Er sah sie an, merkte, wie sich ihre Stirn bereits in Falten gelegt hatte, wie der Überdruck langsam zuzunehmen schien, und schloss das Fenster, falls ein Schrei kommen sollte. Er würde das alles nicht mehr lange durchstehen können.
    Doch eine kleine Hoffnung gab es, denn an diesem Tage würde er die Dinge in die Hand nehmen, nichts mehr einfach so geschehen lassen, die Abläufe etwas systematisieren. Dadurch würde er die Lage auch für sich selbst erträglicher machen, und zwar höchst offiziell mit Genehmigung ihres Arbeitgebers. Er klappte das Notebook auf, fuhr es hoch, nutzte ihre noch anhaltende Sprachlosigkeit – er kannte diese Phase ja bereits – und startete den Podcast.
    Es war erstaunlich, wie gut man ihren innerparteilichen Werdegang auf fünf Minuten komprimieren konnte, sie hatte durchaus Kollegen, bei denen man einen langatmigen Vorspann gebraucht hätte. Da mochte man bei ihr fast schon ein wenig nachdenklich werden. Darüber hinaus beschlich ihn ein gewisses Bedauern darüber, dass dieser Schnelldurchlauf all die schönen, unauffälligen Momente ausließ, die ein Leben ausmachten: die spannenden Gedanken, wohlgehüteten Geheimnisse, die kleinen, intimen Freuden und die Albträume, die nur sie kannte. Sie hatte all das vorerst verloren. Und dass sie noch nicht einmal ahnte, was sie eigentlich vermissen und betrauern sollte, war geradezu fatal. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes untröstlich.
    In diesem Krankenzimmer war aber auch gar nichts, |65| das die Erinnerung in ihr hätte hervorlocken können: kein buntes Sammelsurium, Krimskrams, wie man ihn in den Winkeln alter Weichholzmöbelschränke findet, Kranichfedern aus Tagen, in denen der Urlaub noch Urlaub war, Ansichtskarten aus dem Westen, Weihnachtskugeln mit dem russischen Präsidenten mit Fellmütze auf einem Schlitten, Fotos mit alten Gitarren auf jungen Beinen, Rummelplatzplastikröschen, Schlüssel mit gelben, unbeschrifteten Plastikanhängern, die in kein Schloss mehr passten.
    Doch die Aussparung all dieser Dinge, die sie vielleicht auch gar nicht besaß, waren der Sache womöglich sogar dienlich, um sie auf das Wesentliche zu bringen, um nicht allzu viel Wehmut aufkommen zu lassen.
    Er betrachtete zufrieden das, was sich da gerade auf dem Bildschirm des Notebooks tat. Mit diesem Podcast hatten Büroleiterin und Pressesprecher ganze Arbeit geleistet. Die Erstellung einer exakten Vierundzwanzig-Stunden-Programmierung der eigenen Chefin war eine durchaus reizvolle Aufgabe, die sich wahrscheinlich auch in anderen Branchen so manche Büroleiterin und so mancher Pressesprecher gewünscht hätten.
     
    Doch die Chefin verlor sich zunächst einmal darin, starrte ungläubig auf die Frau in den bunten Blazern mit den weißen Knöpfen, kam sich vor wie auf hoher See, kurz bevor die inneren Gleichgewichtsorgane gegen das rebellieren, was die Augen sehen. Es war wie in einem Film von Stanley Kubrick und doch ganz offenbar die Realität.
    Ungefähr dreißig Sekunden lang ging es gut mit ihr:

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