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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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und rollte ihren Drehstuhl ein Stück nach hinten, »ihr soziales Sicherungssystem. Und vor allem werden Sie für Ihre Frau eine Art Filter sein müssen für alles, was sie erlebt oder was an sie herangetragen wird. Ihnen wird sie vertrauen.«
    |55| Nun lehnte auch er sich zurück, so gut das auf dem Holzstuhl ging. »Oh, da kenne ich mich aus, das können Sie mir glauben. Ich schaue über ihre Manuskripte, wir lesen gemeinsam Zeitung und   …«
    »Ich glaube, Sie werden in Zukunft eher einen Fernseher oder ein iPad dafür brauchen.« Sie hatte ihn unerwartet schnell und ernst unterbrochen, fand er.
    Ihm lag ein Warum auf den Lippen, aber als Technikmuffel wollte er nun auch nicht gelten. »Ja, natürlich haben wir einen Fernseher und Computer zu Hause, und ich bin durchaus ein Freund der schnellen Medientechnik. Aber reicht die in die tieferen Hirnsequenzen?« Er lehnte sich über den Tisch in ihre Richtung, ließ sich nicht unterbrechen. »Ich glaube vielmehr, und halten Sie mich jetzt bitte nicht für altmodisch, dass ihr das ganz profane Tagebuchschreiben helfen könnte, zur Not auch per SMS.   Da kann sie dann morgens nachlesen, was sie am vorhergehenden Tag getan und gedacht hat. So etwas hilft einem doch wieder schnell auf die Sprünge!«
    »Ich befürchte, dass sie sich nicht ganz so profan auf die Sprünge helfen lassen wird.«
    Er schaute sie ratlos an, ihm fehlte noch die logische Schlussfolgerung aus ihren Andeutungen.
    Sie half ihm: »Sie sollten wissen, dass die Lese- und Schreibfähigkeit Ihrer Gattin immer noch gestört ist. Das haben die letzten Tests ergeben. Sie hat Probleme, jegliche Art von Formen oder Schablonen zu erkennen, es scheinen Teile des Hirns betroffen zu sein, die wir bisher für intakt hielten.« Sie lächelte wieder dieses verdammt verständnisvolle Lächeln. »Es muss ein ziemlich großes Brett gewesen sein, das Ihrer Gattin da auf den Kopf gefallen ist. Dabei ist der Ortsname doch so kurz.«
    Er fing vor Verzweiflung tatsächlich an zu lachen, doch es |56| klang wie ein schnappendes Luftholen. »Hören Sie, das ist nicht Ihr Ernst, oder? Meine Frau würde diese Fähigkeiten nie vergessen, das sieht ihr einfach nicht ähnlich. Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist der GAU, das Schlimmste, was ihr widerfahren kann und, mit Verlaub, so etwas passiert vielleicht in griechischen Tragödien, aber nicht auf sibirischen Bahnhöfen!«
    »O doch, Sie können mir glauben, dass wir in dieser Hinsicht nicht weit von Griechenland entfernt sind. Oder glauben Sie, dass die Bahnhöfe da besser in Schuss sind?« Sie stand auf und setzte sich auf die rechte Schreibtischkante. »Sehen Sie, das Lesen ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch wurde nicht genetisch darauf programmiert wie auf das Sprechen. Es ist kein natürlicher Prozess, es muss erlernt und dann trainiert werden wie ein Muskel.«
    Er war noch nicht überzeugt. Nein, er wollte gar nicht überzeugt sein. »Ja, aber das lernt sie doch an einem einzigen Nachmittag, sage ich Ihnen! Und sie ist zäh.«
    »Ja, vielleicht ist das so. Doch wir reden hier von vierzig bis fünfzig verschiedenen Hirnarealen, die bei Ihrer Frau nun auf eine recht eigenwillige Weise miteinander verschaltet sind. Man muss sich das vorstellen wie bei einem Orchester, das plötzlich nicht mehr genau das spielt, was auf den Notenblättern steht.« Und dann schaute sie ihn an und sprach das aus, was ihm selbst gerade bewusst wurde: »Sie dürfen nicht vergessen: Wie es momentan aussieht, wird sie, was auch immer sie heute erlernt, morgen schon wieder vergessen haben.« Es klang mehr nach einer Entschuldigung als nach einer medizinischen Diagnose. Sie fuhrt fort: »Das kann sich alles geben, aber nach derzeitiger Ermessenslage ist es offen, wie lange diese Ausfallverkettungen im Hirn Ihrer Frau noch aktiv bleiben. Sie wird jeden Morgen komplett |57| neue 0   –   1-Entscheidungen treffen müssen. Es gibt nichts dazwischen.«
    »0   –   1-Entscheidungen ? Damit dürfte sie in Zukunft gar nicht mehr koalitionsfähig sein.« Sein Humor war jetzt das einzige Mittel, um mit der Lese- und Schreibschwäche einer Frau klarzukommen, die sich vor Kurzem die Bildungspolitik auf ihre persönlichen Fahnen geschrieben hatte.
    Er schüttelte den Kopf: »Wie soll das alles überhaupt funktionieren? Wie lange halten wir es aus, sie jeden Morgen wieder darüber aufzuklären, was aus ihr geworden ist? Das ist doch Stress, für sie selbst noch mehr als für

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