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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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nach.
     
    Zu ungefähr derselben Zeit legte die Regierungschefin die Schlaftabletten in die hinterste Ecke der Schublade ihres Krankenbett-Schränkchens. Sie hatte die für das Nachbarzimmer bestimmte Ration gleich mit abgegriffen. Niemand |60| hatte es bemerkt, was sie wiederum höchst beunruhigend fand. Vielleicht ließ sich über die Reinigungskräfte auch eine Flasche Wodka organisieren. Sie trank Alkohol nur, wenn es in Gesellschaft unbedingt sein musste, aber dies hier war ein nicht hinnehmbarer Notfall. Zusammen mit den Medikamenten der folgenden Tage würde das für einen letzten Cocktail reichen, um nicht nur die Erinnerung, sondern auch nachhaltig, vielmehr endgültig das Bewusstsein zu verlieren. Sie hoffte inständig, dass sie am nächsten Tag das Sammeln nicht vergessen haben würde.
     
    Das Fenster am Ende des Stationsflures ließ sich glücklicherweise öffnen. Er lehnte sich hinaus, so weit es ging, um Sauerstoff in seine Lungen zu lassen. Er hatte sich gefühlt wie in einem Aquarium, gegen dessen Scheibe er ständig schwamm, und je tiefer er in die Sache hinabgetaucht war, umso höher war der Druck geworden.
    Die junge Ärztin hatte ihn gehörig durcheinandergebracht. Emotionen. Nun ja. Die Frau hatte gut reden mit ihrer russischen Seele. Man konnte es auch übertreiben mit den Emotionen, und er war sich gar nicht sicher, ob er seiner Frau damit überhaupt einen Gefallen tat. Sicher, sie hatte früher schon darunter gelitten, nicht an die Grenze ihrer Möglichkeiten gehen zu können, aber dann gleich Gefühle? Sie würde ihn zudem nicht wiedererkennen, und das war das Letzte, was er wollte.
    Er zermarterte sich das Hirn. Es musste noch einen anderen, besser geeigneten Weg geben. Das war der Kernansatz jeglicher Forschung, und wenn es ein Feuer in ihm gab, eine Leidenschaft, eine Liebe, ein Unverzagtsein, dann brannte es in der Wissenschaft.
    Unten schienen Leute zu demonstrieren. Auf einem Banner las er »Amnesie International«. Oh, Gott. Er schloss die |61| Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Nein, er würde es individuell gestalten, sich erst einmal technischer Hilfsmittel bedienen, denn sie brauchte Fakten für die möglichst schnelle und effektive Gesamtbeurteilung der Lage, befand er.
     
    Noch am selben Tage kümmerte er sich um Notebook und Internetanschluss und fuhr ins Hotel, wo das »Bordpersonal« noch eingecheckt war, um sich Sorgen um die Lage der Nation zu machen unter besonderer Berücksichtigung des Fortbestands der eigenen Ämter.

|62| Von der Systematisierung des Alltags
    Wenn man sich morgens bereits vorkam wie um Jahre gealtert, so sprach das nicht gerade für die Nacht, die hinter einem lag, dachte sie. Dabei hatte sie doch eigentlich sehr gut geschlafen, sogar etwas länger als gewöhnlich. Das tat sie gern. Es waren wohl eher die Dinge, die sich um sie herum gerade so rasant veränderten, der Wandel, ein Stück Geschichte, das sie jetzt mitgestalten durfte, und das alles – das musste man einmal klar sagen – konnte einem auch physisch so einiges abverlangen.
    Sie schlug die Augen auf: weiße, harte Bettwäsche, mintgrünes Licht, das durch dunkelgrüne Vorhänge schimmerte, klappernde Türen draußen auf dem Flur, ihr Mann in einem Sessel neben ihrem Bett. Er griff nach ihrer Hand, was sie beruhigte, denn der Blick in ein vertrautes Gesicht gab dem neuen Tag etwas Gutes, verlieh einem die Zuversicht, dass man nicht allein auf der Welt war, auch wenn man sich so fühlte. Doch wenn das vertraute Gesicht in einem Sessel neben dem Bett saß und nicht auf Augenhöhe in selbigem lag, stimmte etwas nicht, stimmte etwas ganz und gar nicht.
    »Was machst du denn da im Sessel? Welcher Tag ist heute? Bin ich krank? Mein Gott, siehst du alt aus! Wer von uns ist krank um Himmels willen? Sag mir die Wahrheit, bitte!«
    Sie richtete sich auf, saß jetzt senkrecht im Bett wie jeden |63| Morgen und fuhr sich durch die Haare. »Hat das mit dem Demokratischen Aufbruch nicht geklappt? Was ist hier los? Ich hab so dicke Haare!« Sie schlug die Bettdecke zurück, schaute an sich hinunter, wie um sich zu vergewissern, dass sie körperlich unversehrt war. Dann fasste sie sich erneut an den Kopf. »Was ist mit meinen Haaren? Was stimmt hier nicht?«
    Dass sich Frauen Gedanken um ihre Haare machten, hatte an sich nichts Beunruhigendes, in diesem Fall jedoch sehr wohl. »Es hat alles seine Ordnung, Liebes.«
    »Auf welcher Station sind wir hier? Geht es dir gut?« Sie schaute erst ihn an

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