Die Eisläuferin
verlässlich aus meinem Langzeitgedächtnis abrufen kann, ist, dass ich im Jahre 2006 im Fitzwilliam Museum im englischen Cambridge über meine Schnürsenkel stolperte. Ich verlor das Gleichgewicht, stürzte ein paar Stufen der Museumstreppe hinab, landete auf dem Kopf, aber eben auch auf einer Gruppe orientalischer Qing-Vasen aus der Dynastie des Kaisers Kangxi. Sehen Sie, diese drei kostbaren Vasen hatten seit vierzig Jahren an ihrem Platz verharrt, bis ich unerwartet auf sie einstürzte und somit ihre historische Existenz in weniger als zwei Sekunden in mehr als vierhundert Einzelteile zerlegte. So kann das gehen mit der Vergangenheit. Aber in der Gegenwart, da hat’s ordentlich gerumpelt, kann ich Ihnen sagen. Eine unachtsame Bewegung bringt das ganze Spiel in Gang! Ich habe damit so einiges bewegt, meine Liebe, und zwar innerhalb einer Sekunde. Das Museum kam endlich in die Schlagzeilen, und die Restauratoren hatten noch auf Jahre hinaus mit der Wiederherstellung der Artefakte zu tun, ein durchaus lukrativer Auftrag, wenn ich das bemerken darf.«
»Wer sind Sie?«
»Nun, wie gesagt, da bin ich mir selbst nicht so sicher. Aber immerhin habe ich ein paar Spuren hinterlassen.« Sie schaute etwas verlegen, bevor sich ihre Miene wieder aufhellte: »Wissen Sie, wer nichts vergisst oder vergessen kann, ist eine arme Socke. Und Sie? Wer sind Sie überhaupt? Was tun Sie in meinem Schlafzimmer? Wo bin ich? Wollen Sie mit mir frühstücken?«
Die zwei Stunden waren jetzt offensichtlich um, und irgendwo |72| in ihrem Inneren musste sich die Sanduhr wieder auf den Kopf gestellt haben.
Sie nickte der alten Frau leicht zu, lächelte und verließ das Zimmer so unbemerkt, wie sie gekommen war.
Unweit davon gab es einen kleinen Waschraum. Sie ging hinein, lehnte sich über das Waschbecken und sah in den Spiegel. Warum um Himmels willen war ihr jetzt zum Lachen zumute? Die Lage, in der sie sich befand, war tragisch genug. Aber das Vergessen hatte tatsächlich eine positive Seite: Es brachte Erleichterung, und man hatte immer wieder das Gefühl, als sei das Leben nichts weiter als ein gut erzählter Witz. Ja, vielleicht waren die Erinnerungen der letzten Zeit ja wirklich entbehrlich, womöglich sogar hinderlich für ihr Amt, nichts weiter als ein Flickenteppich aus Fakten und einer Menge Halbwahrheiten, durchwirkt mit Verdrehungen und Verdrängungen, die sie nur zu einer Wiederholungstäterin wider Willen machten?
Zugegeben, sich jeden Tag neu zu definieren war eigentlich eine Unmöglichkeit. Es war fatal, wenn das Schlafzimmer jede Nacht zu einem Ort des Vergessens mutierte. Aber wenn sie ehrlich war, war das auch früher schon ein wenig so gewesen. Vor allem galt eines: Sie liebte schwierige Aufgaben, die sie knacken konnte wie einen Code. Es schien zudem viel im Argen zu liegen, so weit sie das in der Kürze der Zeit diesem Filmchen über sich hatte entnehmen können. Doch was am meisten zählte, war die Tatsache, dass der Kampf gegen die Amnesie die größtmögliche Herausforderung darstellte. Genau die war ihr gerade recht, genau die wollte sie bewältigen. Sie allein. Je vielfältiger die Begründungen für ein Scheitern waren, umso hartnäckiger war der Wunsch, es trotzdem zu versuchen. Der Tunnelblick schien wiederzukommen, getrieben von Mächten, über die sie lieber nicht nachdachte.
|73| Sie zog die Wetterjacke wieder aus und stopfte sie in einen Wäschebeutel neben dem Becken.
Eine einzige Sache an dem ganzen prekären Umstand war zudem bestechend einfach: Was immer sie sagen und tun würde, niemand konnte ihr daraus wirklich einen Vorwurf machen, und wenn doch, dann würde sie ihn am nächsten Tag wieder vergessen haben. Es gab Schlimmeres. Und es würde nicht auffallen in der Politik.
Sie suchte nach einem Stift. Diese Sicht der Dinge musste sie sich direkt aufschreiben, um sie bei passender Gelegenheit zu rekapitulieren. Gegen das Vergessen anzuschreiben war natürlich die Lösung, damit war sie autark. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Ihr Kampfgeist war wieder da.
Sie ertastete einen Kugelschreiber in ihrer Hosentasche, nahm sich ein Papiertuch aus dem Spender. Und wartete lange auf den ersten Buchstaben. Er wollte nicht kommen, er wollte einfach nicht kommen. Alles war bereit, nur der Westwind nicht.
|74| Le point perdu
Alle hatten gewusst, dass es früher oder später so kommen würde, und es wäre müßig, einfach über die Sommerpause hinaus auf Besserung zu warten. Wenn das Land rief,
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