Die Eisläuferin
anders als sonst, aber das schien dem Gast, der sich wohl auch ständig irgendwie anders fühlte als noch im Augenblick zuvor, zu gefallen – endlich eine Umgebung, die mit ihm Schritt halten konnte.
Sie war aufgeregt. Dass dies ihrem Begleiter entging, lag vermutlich daran, dass er es selbst auch war, wenn auch vielleicht auf eine etwas grundsätzlichere Art und Weise als sie. Zunächst einmal war er offenbar mit sich selbst beschäftigt und schien keinen Verdacht zu schöpfen.
»Ma chère, warum warst du in Moskau, als Europa disch brauchte?«
»Nun, als ich das letzte Mal in Moskau war, wusste ich noch nicht einmal, dass mein Land mich braucht.«
Génial, auch hier gab es Parallelen, denn er hatte ebenfalls gewusst, dass sein Land ihn brauchte, lange bevor die Nation es wusste.
Sie wies ihm den Weg in das Gebäude, das sie nicht kannte, aber er. Man musste ihn nur laufen lassen und per Seitenblick unter Kontrolle halten. Er fand den Aufzug zur Terrasse und ließ ihr den Vortritt.
|80| Auf dem Weg von der Terrasse ins Speisezimmer hatte man ihr in der Eile lediglich »1+3« ins Ohr geraunt, und sie fragte sich, was das bedeuten konnte: Aperitif und drei Gänge? Doch dann sah sie die anderen. Es waren viele, nämlich drei auf jeder Seite: allem Anschein nach Übersetzer, Berater, Europapolitik-Experten, allesamt eingeweiht in die Materie, wenn auch nicht so ganz in die derzeitige persönliche Disposition der Regierungschefin. Man nahm Platz.
Über den Gast hatte man ihr ganz eigentümliche Dinge erzählt. Er sei ein wenig speziell, eher das Gegenteil von ihr, und man müsse sich noch ein bisschen zusammenraufen. Momentan sei Zurückhaltung bei gleichzeitiger klarer Positionierung der nationalen Ziele angesagt.
Wie um Himmels willen sollte das gehen? Speziell war sie doch selbst schon, wenn auch anders. Zudem musste er ihr gegenüber einen gewaltigen, nämlich zwanzig Jahre umfassenden Wissensvorsprung haben. Sie kam also zu dem Schluss, dass ihr in Anbetracht dieser Tatsachen erst einmal nichts anderes übrig blieb, als ihm einfach zuzuhören, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und den eigentlichen Job der zweiten Liga, den Beratern am Tisch, zu überlassen – wenn auch ungern. Eh oui.
Der Flüsterübersetzerin neben sich hatte sie es zu verdanken, dass sie stets über ein paar Millisekunden verfügen konnte, bevor sie direkt auf ihn reagierte. Sie hätte zwar durchaus auf solche Dienste verzichten können, aber er reiste wohl stets mit Übersetzer, um die eigene Sprache nicht zu verlernen. Und sicher, auch sie war des Mandarin oder einiger Dialekte des Kaukasus nicht so mächtig. Man mochte es ein klein wenig verstehen.
Sie lehnte sich zurück und beobachtete ihn, denn wenn man eines Menschen Geist ergründen wollte, musste man nur darauf schauen, was er tat. Er schien unter dem Tisch |81| mit den Beinen zu wippen, auf eine Art, die an ein entschärftes Tourette-Syndrom erinnerte, und sein Blick war, wie sollte man sagen, etwas volatil, inspizierte aus einem ihr unerklärlichen Grund jedes einzelne Tablett, das vom Servicepersonal an den Tisch getragen wurde. Die Gesichtszüge waren auf eine bemerkenswerte Art elastisch, wohl vom schnellen Wechsel der Mimik, nahm sie an. Nein, man konnte nicht sagen, dass es langweilig mit ihm gewesen wäre.
»Ma chère, warum hast du meine Briefe nicht beantwortet?«
Welche Briefe um Himmels willen? Schrieb man sich heutzutage noch Briefe und schickte sie mit Reitern über die Grenzanlagen? Sie schaute unsicher zum Wirtschaftsberater, der wiederum zum Pressesprecher schaute. Es half nichts: »Mon schär, ich lese Zeitung. C’est tout. Denn jedes Mal, wenn du einen Brief schreibst, steht er noch am selben Tag in der Presse, und dann denke ich mir, dass er nicht allein für mich bestimmt war.«
Man lächelte besänftigend über den Tisch. Sie griff nach dem Tellerchen mit der Butter, bevor der Gast, der noch mit seinem Brot spielte, eine Chance hatte.
Doch dann stellte dieser inmitten seines Redeflusses eine Frage politischen Inhalts: Wie denn aus ihrer Sicht die finanziellen Ungleichgewichte der rumänischen und bulgarischen Währungen zu bewerten seien.
Sie reichte ihm das Tellerchen: »Du beurre?« Zeit gewinnen. Es arbeitete in ihr. Waren die jetzt zwischenzeitlich der Europäischen Union beigetreten oder nicht? Und wie viel Euroländer gab es eigentlich?
»Nun, ich sage ganz klar, dies ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen und die
Weitere Kostenlose Bücher