Die Eisläuferin
vorgelegt, ihr das Leben erzählt, aber die Frau in diesem Podcast am Morgen war seltsam unlebendig geblieben. Sie hatte den Bildschirm hin und her geneigt, um alles genau zu sehen, wie eine Sportlerin, die sich vor der nächsten Trainingsphase |77| ihre eigenen Bewegungsabläufe noch einmal visualisieren lässt. So richtig lebendig hatte sie nicht gewirkt beim Thema »Intelligent sparen, zukunftsorientiert investieren«, um »Brücken über das tiefe Tal der Konjunktur zu bauen«. Offenbar hatte sie bereits vor Omsk eine gewisse Vorhersehbarkeit und Unbestimmtheit, eine themenunabhängige Traurigkeit in ihre Worte gelegt. Kurzum, der Funke war einfach nicht übergesprungen, genauso gut hätte sie als Museumsdirektorin über die Ausstellungsfähigkeit von Schrumpfköpfen referieren können. Nein, diese Frau da auf dem Bildschirm sprach offensichtlich nur einen Bruchteil dessen aus, was sie eigentlich gern gesagt hätte, und bis auf die Bewegung ihrer Mundwinkel hatte sie keinen Hinweis auf ihre Befindlichkeit feststellen können. Dabei hatte sie doch gedacht, sie würde sich selbst am besten kennen.
Auf eine seltsam beruhigende Art hatte man ihr versichert, dass es inzwischen weit über hundert dieser Filme mit ihr gab, die man jeweils als »Gebrauchsanweisung für den Tag« einzusetzen gedenke, was sie wiederum ganz und gar nicht beruhigend gefunden hatte.
Auch mit der Gestik würde sie Schwierigkeiten haben. Es wirkte alles ein wenig wie Haltungsturnen, fand sie – dieses Fach hatte sie in der Schule gehasst – und nun schien sie es sogar professionell zu betreiben. Die Tai-Chi-Übung mit den vor dem Körper zusammengeführten Fingerspitzen beispielsweise konnte sie noch so oft üben, sie bekam sie einfach nicht mehr hin. Nein, ihr Chi wollte sich offenbar nicht unter Kontrolle halten lassen. Sie war sich selbst abhanden gekommen.
Das Regierungsgebäude kam in Sicht. Es verdiente wirklich nicht das angestaubte Wort »Amt« im Namen, so imposant und sachlich zugleich war es, so offen, so hell und so transparent |78| wie wohl kein zweites auf der Welt. Mitten in der Stadt, direkt am Fluss, nach allen Seiten hin luftig, mit zarten Bäumchen, die aus dem Beton in den Himmel zu wachsen schienen. Nein, da konnte sie sich wahrhaft nicht beschweren: Das war ein Gebäude, das genau so aussah, wie sie sich fühlte – kein schnörkeliges Sanssoucis, eher ein aufgeklärtes Avecsoucis. Das passte zu ihr, sie war begeistert.
Sie sah das Parlament, die Glaskuppel, das Volk darin, und jetzt war da nichts, aber auch gar nichts mehr, das sie noch auf der Rückbank gehalten hätte. Es galt, diesen einen Tag mit wunderbaren Eindrücken zu füllen, auf dass diese irgendwie ihren Weg in die dafür vorgesehenen Hirnareale fanden. Und das hier war ein wunderbarer Eindruck. Sie dachte nicht mehr nach über den nächsten Schritt, sie tat ihn einfach, als ihr Fahrzeug an der roten Ampel hielt. Diese letzten Meter würde sie zu Fuß zurücklegen. Herr Bodega im Wagen dahinter, inzwischen vom Freizeit- zum Nonstop-Leibwächter aufgestiegen, kam so schnell gar nicht hinter ihr her.
Beinahe hätte sie die Wagenkolonne ihres Staatsgastes übersehen, die vor ihr und einigen anderen Leuten an der Fußgängerampel zum Stehen kam. Eine außerordentlich edle Limousine scherte aus, und die Scheibe fuhr herunter: »Bonjour, Madame. Ma chère, können wir disch vielleicht ein Stück mitnehmen? Isch nehme an, du willst dorthin, wo isch auch hin will?« Es konnte kein anderer sein. Er trug seine Frisur wie einen kleinen Helm, ein noch offen stehendes blaues Sakko und darunter ein weißes Hemd. Besser konnte man Verhandlungen über gemeinsame Ziele nicht eröffnen, fand sie, und sie stieg zu dem fremden Mann ins Auto. Herr Bodega ließ es fassungslos geschehen, denn er kannte den Mann.
|79| Das gemeinsame Vorfahren und Aussteigen aus der Limousine mit dem kleinen Fähnchen brachte die Sicherheitsbeamten und das Protokoll an den Rand des Nervenzusammenbruchs, aber die Journalisten und Fotografen waren entzückt: ein genialer Schachzug der Regierungschefin. Hatte sie ihn bereits außerplanmäßig auswärts zum Frühstück getroffen? Nein, offenbar nicht, denn jetzt kamen die Bisous. Die Akten klemmten noch unter ihrem Arm, und sie konnte ihn deshalb nicht wie sonst auf Abstand halten, indem sie instinktiv ihre Hände gegen seine Schultern stemmte.
Er genoss das Blitzlichtgewitter, es war das reinste Morgentau-Getrete. Alles war irgendwie
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