Die Eisläuferin
hatte das Oberhaupt zu folgen – mit oder ohne intaktem Hippocampus. Das alles würde, so hatte man ihm versichert, rein äußerlich mit einer fast schon lakonischen Reibungslosigkeit vonstatten gehen. Der Betreuungsapparat im Hintergrund würde wie immer enorm sein – überlasse nichts dem Zufall. Schließlich sollte es nichts weiter als eine improvisierte Kurzinbetriebnahme sein, man würde sie lediglich über die Bühne gehen lassen, auch wenn – das musste man zugeben – die männliche Besetzung dieses Mal nicht ganz unanstrengend war. Es sei »nur« ein außenpolitischer Arbeitstermin und somit immerhin eine gute Einstiegsübung, denn die Außen- liege ihr nun einmal mehr als die Innenpolitik.
Er hatte den Hörer wieder in die Gabel gelegt und versucht, sich ihr gegenüber vorerst nichts anmerken zu lassen, fuhr zunächst einmal fort in dem, was er gerade getan hatte und las ihr das Ende von Seite dreihundertneununddreißig vor:
»Es konnte kein anderer sein. Er saß auf einem grauen arabischen Pferd von außerordentlich edler Rasse, auf einer karmesinroten, goldgestickten Schabracke und ritt Galopp; er trug einen kleinen Hut, über der Schulter das Band des
|75|
Andreasordens, einen offen stehenden blauen Uniformrock und darunter eine weiße Weste.«
Er schlug das Buch zu. »Liebes, wir müssen packen. Es geht los.«
Die Nachricht war – typisch für ihn – schnell und unerwartet gekommen. Seine Vorauskommandos waren bereits da gewesen, das Außenministerium hatte die ersten Mitarbeiter aus dem Urlaub zurückgerufen, und der MAV war außer sich: »Mitten in der Sommerpause, was denkt der sich? Wir werden weder Brüssel noch die Bevölkerung damit erreichen. Im August zwängen sich doch nur die vor die Kamera, die es nötig haben!«
»Das ist es ja gerade. Er wird sich etwas einsam fühlen, im August ist sein Land noch ausgestorbener als unseres, alle Kameraleute und Fotografen sind en vacances. Ihm wird ein wenig das Spiegelbild fehlen.« Die Büroleiterin legte ihr Handy für zwei Minuten aus der Hand und fuhr fort: »Kommen Sie, es ist lediglich ein Arbeitsbesuch, ein gemeinsamer Gang durch den Park, von irgendwoher nach irgendwohin und dann wieder zurück, ein Glas Wasser auf der Terrasse und ein Speisezimmertermin. Wir können ihm unmöglich ein zweites Mal absagen. Haben wir geeignetes, aktuelles Filmmaterial für morgen früh?«
Sie blickte zum Regierungssprecher hinüber, der bereits seinen ersten beruflichen Albtraum auf sich zukommen sah. »Nun, wir führen ihr einfach seinen letzten Besuch vor. Dann kann sie mühelos alles so übernehmen, und als Hintergrundinformationen liefern wir ihr die Eurokrisen der letzten zwei Jahre und den Zusammenbruch der griechischen Staatskassen.« Er schaute triumphierend in die Runde, als sei das Problem dadurch bereits gelöst. Doch die Problembewältigerin der Probleme befand sich selbst in keinem |76| ganz unproblematischem Zustand. Eine Priorisierung der Probleme war äußerst problematisch geworden.
Die Außenwelt rollte schall- und schusssicher an ihr vorüber, als sie dorthin fuhren, wo sie ihr Büro vermutete. Sie hatte am Morgen dieses Tages bereits zwei Stunden vor einem Notebook verbringen müssen und diesem doch recht beunruhigende Inhalte über sich und die Welt entnommen. Dann hatte sich eine Stunde »Gedächtnis-Ambulanz« mit Dimitrij, einem russischen Therapeuten, angeschlossen, der sie offenbar bereits in der Klinik behandelt hatte und mittlerweile zum engsten Kreis der »Eingeweihten« gehörte. Doch was auch immer jetzt auf sie zukam: Jammern würde sie deswegen nicht und heulen schon gar nicht.
Sie legte die Akten, die sie für die Fotografen dabei haben sollte, auf den Schoß und schaute hinaus auf die Stadt, kam sich vor wie eine Touristin mit Eskortservice. Ablenkung verschaffte ihr das dennoch nicht, denn bei all den beklemmenden Gefühlen, die sie überkamen, wusste sie in diesem Moment wirklich nicht, über was sie mehr erschüttert sein sollte: über den Ratschlag des jungen Russen, an jedem Tag »das Unbewusste, also ihre Gefühle, aus den Tiefen ihrer Seele zu holen«, da ihr das Brett ja schließlich nur auf den Kopf und nicht auf den Bauch gefallen sei, oder über den Umstand, dass das Regierungsoberhaupt, das sie gleich treffen würde, fast noch beunruhigender auf sie gewirkt hatte als sie selbst im morgendlichen Film.
Im Grunde hatte sie mit ihrer eigenen Person wirklich schon genug zu tun: Man hatte ihr Beweise
Weitere Kostenlose Bücher