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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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Tagesprogramms nichts mehr im Wege stand: »Liebes, da ist noch etwas. Wir werden dir das alles jeden Morgen neu sagen müssen   …«
    Als er zu Ende gesprochen hatte, kam der Schrei wieder und mit ihm die Angst, sie könne hyperventilierend zusammenbrechen. Das war ihm eindeutig alles zu anstrengend. Auch wenn es mit einer begleitenden professionellen Therapie mit der Zeit einfacher werden könnte, so würde er diesen letzten Teil der Aufklärungsarbeit mit in den Podcast einbauen lassen. Sollten ihr das doch die anderen beibringen.
    Er schaute sorgenvoll auf die Uhr: Vierzig Minuten insgesamt, sie lagen jetzt schon nicht mehr so gut in der Zeit, und sie war noch nicht einmal angezogen und geföhnt.
     
    |69| Sie öffnete den Schrank, in dem sie Garderobe vermutete, nahm eine seltsam kurz geratene Hose, helle Sportschuhe, Pulli und eine praktische Windjacke heraus, stellte erstaunt fest, dass ihr das alles tatsächlich passte, und rannte an Herrn Bodega vorbei auf den Flur. Sie lief, lief schneller, die Aufzüge konnten doch nicht mehr weit entfernt sein. Zur Not würde sie die Treppen nehmen, dann, ohne zu überlegen, auf die nächstbeste stark befahrene Straße laufen und sich vor ein großes russisches Auto werfen. Vielleicht gab es ja auch einen nicht gesicherten Bahnübergang in fußläufiger Entfernung.
    Ein Pflegerteam kam ihr entgegen wie ein Sondereinsatzkommando, eine einzige weiße Wand. Sie machte einen spontanen Schlenker nach rechts, rannte weiter, konnte nichts lesen von dem, was da auf den Türen stand, obwohl sie doch eigentlich des Russischen mächtig war. Bevor sie sich gedanklich näher damit beschäftigte, nahm sie die erstbeste Tür und schloss sie hinter sich.
    Sie hörte Schritte auf dem Korridor, man war hinter ihr her, und sehr weit würde sie hier wohl nicht kommen. Was, wenn das alles eine gigantische Verschwörung war? Wenn das Regime sich in letzter Minute doch noch aller demokratischen Querköpfe bemächtigt hatte und sie jetzt einer gründlichen Gehirnwäsche unterzog? Hatte ihr Mann nicht gesagt, man habe kaum noch Kandidaten für das Amt? Allesamt weg! Ruhiggestellt, ersetzt durch diese neuen, lächelnden Randlosbrillenträger. Was für eine perfide Rache des Regimes!
    Das wurde ihr jetzt alles etwas zu unheimlich. Aber sie konnte auch nicht einfach auf die Straße unter die Leute gehen und fragen: Sehe ich so aus wie Ihre Regierungschefin? Außerdem war dies hier Moskau. Wer würde sie hier schon erkennen?
    |70| »Sind Sie die Frau, die ein Land regiert und es vergaß?«
    Sie schleuderte ihren Kopf herum und wurde sich bewusst, dass sie einfach nur von einem Krankenzimmer in ein anderes gestürzt war.
    Im Bett lag eine alte Frau, die sie zu sich herüberwinkte: »Haben Sie keine Angst, kommen Sie näher. Amnesie ist nicht ansteckend. Die Ärztin hat mir Ihre Geschichte gerade erst erzählt. Keine Sorge, ich werde das alles gleich wieder vergessen haben. Mein Gedächtnis hält nicht länger als zwei Stunden. Medizinisch bin ich ein hoffnungsloser Fall.«
    Sie hatte sich trotz ihres offenbar hohen Alters erstaunlich gut gehalten, und sie besaß bemerkenswert funkelnde Augen, denen nichts zu entgehen schien.
    »Genießen Sie jede Sekunde, in der Sie wissen, wer Sie sind. Befassen Sie sich nicht allzu sehr mit den vergangenen Dingen, sie lasten auf unseren gegenwärtigen Unternehmungen und ersticken sie im Keim. Jetzt sollte Ihnen Ihr Leben erst mal Spaß machen, und dabei belassen Sie es einfach. Seien Sie doch um Himmels willen nicht so misstrauisch, Kindchen. Sie haben einen ganzen Tag! Was wollen Sie mehr?«
    Sie suchte nach Kameras, ihre Augen huschten durch den Raum. War das hier eine erste Versuchsanordnung? Und dennoch: Diese alte Frau hatte etwas, das sie schon aus rein naturwissenschaftlicher Sicht bemerkenswert machte. Reichte ihr Gedächtnis wirklich nur für zwei Stunden?
    Sie musste der Sache auf den Grund gehen. »Was ist positiv daran, wenn man sein Dasein immer wieder neu infrage stellen muss?«
    »Durch diese Eigenschaft unterscheidet sich der Mensch von allen anderen Lebewesen, nicht wahr? Aber irgendwann beachtet man sie nicht mehr. Die Natur scheint da eine Selbstregulierung eingebaut zu haben. Schade eigentlich.«
    |71| »Was soll das heißen?«
    Die alte Frau schaute auf ihre Armbanduhr und schien zu überprüfen, wie viel Zeit ihr noch blieb: »Nun, wie wichtig ist eine gelebte Sekunde im Vergleich zur Vergangenheit? Nehmen Sie mich: Das Letzte, das ich

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