Die Eisläuferin
leicht schräg, aber das Bild, das sich ihr bot, blieb schräg. Mein Gott, dachte sie, das sind sie nun, meine Kabinettsmitglieder.
Lächeln, sie versuchte zu lächeln, wohl wissend, dass das menschliche Gehirn echtes von unechtem Lächeln nicht unterscheiden kann und dass dies im Zweifelsfall nicht nur für die Anwesenden, sondern auch für sie selbst durchaus stimmungshebend sein konnte. Sie kam als Letzte, weil das eben so war, und musste außen um sie herumgehen, sah nur Hinterköpfe, marschierte am gerahmten »Frühstück der Bergbauern« vorbei, suchte ihren Platz mit der Glocke. Sie fand ihn und mitten auf dem großen Tisch auch die Uhr, die von vier Seiten die Zeit anzeigte. Sie konnte es kaum glauben! Ihr wurde warm ums Herz, und die Erinnerung kam. Dass beide Gegenstände, Glocke und Uhr, seit über zwanzig Jahren zum Inventar gehörten und deshalb nicht auf ihre fortschreitende Genesung hindeuteten, war ihr jetzt |94| vollends egal. Was zählte, war die Erinnerung, sie nahm jetzt jede erstbeste.
Und bevor irgendjemand eingreifen konnte, schwenkte sie die Glocke befreit und so weit hin und her, wie es der Ärmelschnitt ihres Blazers zuließ. Es fühlte sich wunderbar an! Ja, sie war fit und fröhlich dabei. Perioden, lauter neue eingeläutete Legislaturperioden. Allein, die Tafelrunde schien sich nicht von ihrem Überschwang anstecken zu lassen. Man hätte auch sagen können, sie störte.
Es war, als hätte sie damit nicht nur die Sitzung, sondern auch die Sinne der Anwesenden eröffnet, denn die Glocke, so erinnerte sie sich, kam eben auch zum Einsatz, wenn demonstrativ um Ruhe gebeten werden musste. Nun war Ruhe. Die Gesichter, in die kurzzeitig echte, unkontrollierte Bewegung gekommen war, schauten jetzt wie versteinert auf die Dame im brombeerroten Blazer, die die Glocke wieder absetzte. Und die Dame im brombeerroten Blazer ließ ihrerseits den Blick über die Köpfe gleiten, in der Hoffnung, einen einzigen wiederzuerkennen, ein einziges Gesicht mit Geschichte zu entdecken, das ihr etwas erzählen, sie ins Grübeln bringen, ihr einen Anstoß, auch nur den Hauch einer Eingebung schenken könnte. Sie hing mit den Augen an ihnen, wartete auf einen wie auch immer gearteten Impuls, auf ein überspringendes Fünkchen. Aber nein. Man war, bis auf wenige Ausnahmen, erstaunlich jung und gab sich verdächtig makellos, war ganz bei sich selbst, keine einzige starke Schulter zum Anlehnen. Wenn das ihr Kabinett war, welches Bild würde dann erst die Opposition abgeben? Ach.
Der MAV neben ihr stupste unten ganz vorsichtig mit dem Fuß gegen ihren Unterschenkel, während er oben geschäftig seine Aktenmappe durchblätterte. Sie stupste zurück, presste die Lippen aufeinander und schaute immer noch fassungslos in die Runde. Sie wusste nicht, was sie |95| eigentlich erwartet hatte, aber definitiv nicht das hier. Ein Blick auf die Uhr: 10.10 Uhr. Es half nichts.
Sie nickte unmerklich einmal mit dem Kopf, wie um sich selbst zu bestätigen und begann: »Liebe Kabinettsmitglieder, Sie sehen, mein Urlaub ist beendet und der Ihrige somit auch. Vor uns liegen große Herausforderungen. Ich weiß, wir können nicht so tun, als habe es die letzten zwanzig Jahre nicht gegeben. Ich konstatierte jedoch, dass wir uns schon wieder oder immer noch, da bin ich mir nicht so sicher, in einer moralischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Krise befinden.« Ihre Augen wurden schmaler, und ihr Nachbar schob diskret die Glocke außer Griffweite. »Ich sage Ihnen, hier schreit alles nach demokratischem Aufbruch, jetzt nach dem Urlaub und überhaupt, und zwar sozial und ökologisch!«
Stille. Sie schaute in die Runde und bekam es zum ersten Mal mit der Angst zu tun. Was war bloß in den letzten zwanzig Jahren passiert oder vielmehr nicht passiert? Aus dem, was sie bisher nur dunkel erahnt hatte, wurde plötzlich traurige Gewissheit: Es hatte sich nicht viel geändert. Die Probleme waren wohl immer noch dieselben, lediglich die Prozesse und die Menschen dahinter hatten sich geändert, doch auch nicht unbedingt zum Besseren. Und sie war eine von denen. Augenscheinlich hatte auch sie nichts geändert. Vielleicht war man tatsächlich aufgebrochen vor zwanzig Jahren, aber nun kampierte man irgendwo auf halber Strecke, und die Pferde wurden langsam fußlahm.
Die Anwesenden verfügten fraglos über mehr, sehr viel mehr als nur einen Tag Zeit, denn ihre Reaktionen waren eher gedämpft und ließen keine darüber
Weitere Kostenlose Bücher