Die Eisläuferin
nicht wahr?«
Die Herren grinsten und ruckelten ein wenig unbehaglich an ihren Krawatten, das konnte sie aus der Entfernung erkennen.
Auf dem Schreibtisch lag etwas einsam eine Unterschriftenmappe in tiefem Bordeauxrot mittig auf der Schreibunterlage, wie ausgemessen. Kollegen mochten eine ganze Batterie pfiffig bunter Briefbeschwerer oder neckische Kleinkunst auf dem Arbeitstisch haben, um allzu verdächtige Übersichtlichkeit ein wenig aufzulockern. Aber hier waren selbst die Auflockerungsgegenstände sehr übersichtlich, fand sie. War das tatsächlich ihr Schreibtisch? Ihr Büro? Sie tat einen Schritt zur Wand, klopfte dagegen. Massiv. Offenbar echt. Noch im Stehen klappte sie die Unterschriftenmappe auf und warf einen verstohlenen, seitlichen Blick hinein, als dürfe sie das eigentlich nicht. Ja, Unterschriften, an all die zu leistenden Unterschriften in ihrem Amt hatte sie noch gar nicht gedacht. Wie sollte das jetzt gehen?
Die Büroleiterin schien ihre Gedanken erraten zu haben und sprang ihr zu Hilfe: Eine Einladung zum Sternsingertreffen in vier Monaten liege obenauf, erklärte sie, danach ein Manager-Lunch in kleinem Kreis.
Sie schlug eine Seite zurück. Seltsam. Beide Schriftstücke ähnelten sich ganz frappant. Sie blätterte weiter.
|89| »Eine Zusage für eine Tischrede anlässlich des diesjährigen Balls des Verbands der Steuerberater.«
Als sie sonst nichts mehr in der Mappe vorfand, wusste sie nicht, ob sie erleichtert aufatmen oder sich empören sollte. Lohnte sich dafür das Lesen- und Schreiben-Lernen? Es war ein etwas verlegener Moment.
»Sie sind zu weit oben für die kleinen Dinge, und es arbeiten zu viele Leute unter Ihnen.« Die Büroleiterin war schon einmal geschickter gewesen, das wurde ihr selbst jetzt auch klar: »Entschuldigung, das wissen Sie ja alles.« Und nochmals auf die Mappe zeigend: »Für die Unterschrift habe ich die Linien mit Bleistift vorgezogen. Sie müssen nur noch nachmalen.«
Sie wollte nicht. Nicht heute. Morgen wahrscheinlich auch nicht. Aber vielleicht gab es ja noch Spannenderes als eine Einladung an die heiligen drei Könige.
Sie kam hinüber zum Besprechungstisch in der anderen Hälfte des Büros, vorbei an drei überdimensional großen Schachfiguren, eine Dame und zwei Bauern. Sie lächelte aufmunternd in die Runde: »So, meine Herren. Man sagt mir, Sie seien eingeweiht, was immer das heißen mag. Also, ich weiß gar nichts. Nicht, wie man heutzutage ein Gesetz macht oder wie ein Ministerium funktioniert, geschweige denn, wie man vorschriftsmäßig regiert. Und nun sind Sie dran. Ich höre Ihnen zu.«
Schweigen. Der Minister guckte, als hätte er ihren letzten Satz zum ersten Mal gehört, kam zu sich und machte eine etwas improvisierte generöse Geste: »Das brauchen Sie jetzt nicht alles zu wissen. Das machen wir später. Vielleicht geht das ja auch alles so.«
Er versuchte zu lächeln, was ihm nicht so recht gelang, setzte stattdessen seine Brille ab, um diese mit einer Serviette zu putzen.
|90| »Später machen?« Das alles behagte ihr ganz und gar nicht, wie konnte es auch, wenn man die noch zur Verfügung stehenden fünfzehn Stunden vor erneutem Gedächtnisverlust bedachte? Aber vielleicht war gerade das die Lösung an diesem einen flüchtigen Tage. Vielleicht musste sie tatsächlich neue Prioritäten setzen? Sie schaute zum Pressesprecher: »Nun, dann eben später. Haben Sie eine Idee, wie man Nichtwissen überzeugend und für alle Seiten zufriedenstellend ausdrückt?«
Der Regierungssprecher konnte perfekt und herzerwärmend lächeln: »Das lassen Sie mal meine Sorge sein, Chefin.«
Es kam Hoffnung in ihr auf: »Also, ich werde versuchen, mich so vernünftig zu verhalten, dass Sie möglichst wenig Ärger mit mir haben.«
Alle lachten. Niemand glaubte es. Doch momentan konnte man tatsächlich über kleinere Wissenslücken hinwegsehen, denn es galt, sich über höchst erquickliche Nachrichten zu freuen.
Der Regierungssprecher konnte die ihm auferlegte Zurückhaltung nun nicht länger im Zaum halten und donnerte wie ein alter Kartenspieler die Titelblätter der größten Tageszeitungen auf den großen Tisch: »Schauen Sie sich diese Bilder an, diese Presse, ist das nicht wunderbar? Und das am ersten Tag nach der Sommerpause! Frankreich wird begeistert sein, unser Land wird geradezu weniger kritisch sein!«
Sie versuchte, einen der schweren Besprechungsstühle auf dem stumpfen Teppichboden beiseitezuschieben, und stellte sich mit der Runde an
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