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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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hatte immer gedacht, das Redenmüssen sei ausschließlich im weiblichen Genpool angelegt, aber davon konnte hier keine Rede sein. Manche Hähne schienen zu glauben, dass die Sonne ihretwegen aufging. Und war sie sich mit ihrer Gedächtnisstörung vorher schon allein vorgekommen, so fühlte sie sich jetzt regelrecht einsam. Es gab niemanden in dieser Runde, den sie um Rat fragen konnte oder wollte, hier würde sie keine Orientierung finden, mit niemandem abends am Küchentisch die Welt verändern, obwohl das doch eigentlich ihre Aufgabe war.
    Von hinten rechts setzte sich eine Stimme durch: »Ich als Oppositionsmitglied sehe das ganz anders   …«
    Sein Nachbar stieß ihn gegen den Ellenbogen: »Pst. Wir sind hier in der Kabinettsitzung!«
    »Oh, Entschuldigung.«
    Ihr wurde langweilig. Die Projekte, die hier erörtert wurden, waren entweder so vorgärtnerisch, dass sie keiner Planung bedurften geschweige denn einer Sitzung, oder aber so komplex, dass keine Planung funktionierte. Es war |99| der reinste Chirurgenkongress. Offenbar hatte sie ihre Kabinettsmitglieder in einem recht unsoliden Zustand hinterlassen, als sie nach Russland aufgebrochen war. Keine Spur mehr von demokratischem Aufbruch, keine Schweißperlen mehr auf der Stirn. Vielleicht hatte die Vergangenheit tatsächlich keine Zukunft. Es gab schon lange keine Mauer mehr und trotzdem kein Land in Sicht außer Südschleswig. Mit diesen Leuten würde das Politikmachen verdammt schwierig werden, im Vergleich dazu nahm sich ihr Gedächtnisverlust noch harmlos aus, fand sie. Sie redeten, als erlebten sie ein und denselben Tag jeden Tag aufs Neue, während bei ihr ein Tag den anderen auslöschte. Und sie wusste nicht, was schlimmer war.
    Sie warf sich auf den Tisch und griff zur Glocke, um all dem vorerst ein Ende zu machen.
    Noch während alle anderen ihre Dokumente zusammenräumten, war sie draußen und stürzte wie von einer Fliehkraft getrieben auf das Treppengeländer zu. Ja, die Fallhöhe dürfte ausreichend sein. Sie nahm Anlauf.

|100| Das Interview   – Von der Entbehrlichkeit der Erinnerung
    »Chefin, wo stürzen Sie denn so eilig hin? Da geht es nach unten, das ist die falsche Richtung!«
    Sie spürte einen beherzten Griff am Oberarm und blickte sich um: »Nach unten, eben. Genau da will ich hin. Herrje, kann man sich nicht einmal in Ruhe das Leben nehmen?«
    Der Pressesprecher meinte, sie habe aber Humor und gute Nerven. Ha! Die könne sie jetzt auch gebrauchen. Die Journalisten würden bereits oben warten.
    Er schien die Situation nicht ganz erfasst zu haben, las lieber Wirtschaftsnachrichten als Todesanzeigen, obwohl es die in dieser Rubrik ebenfalls gab, wenn auch nicht schwarz umrandet.
    Er war sehr aufgeregt und versuchte, sie zu beruhigen: »Denken Sie an das Wording, wir sind das heute Vormittag im Film doch alles durchgegangen, ja? Sagen Sie einfach genau das, was Sie vor Ihrem Urlaub auch gesagt haben, ja? Die Fragen müssen Sie nicht kennen, nur die Antworten, die Sie zu geben haben.« Und schon hatte er die Finger an ihrem Hals: »Verzeihung, darf ich Ihre Halskette ein klein wenig gerade rücken? So.«
     
    Sie wurde nach oben abgeführt und vor eine blaue Wand gestellt, auf der »Politik direkt« stand. Das Erschießungskommando wartete bereits – ein »kleiner, ausgewählter |101| Kreis«   –, jeder Journalist mit eigenem Kameramann, jeder Kameramann mit eigenem Kabelträger, alle Fluchtwege versperrt. Sie hatte noch nicht einmal vorher in den Spiegel gucken können, nicht einmal diese kleine Eitelkeit war ihr vergönnt.
    Ihr war jetzt alles egal. Medienvermittelte Nähe zu den Menschen? Alles live? Das konnten sie haben! Die Mundwinkel klappten nach unten.
    Die erste Frage kam von einem Herrn ganz vorn, als sie noch damit beschäftigt war, ihre zwei Standpunkte auf dem Boden zu finden, von denen der Pressesprecher gesprochen hatte: »…   fühlen Sie sich nach Ihrem Urlaub bestärkt in neuen Ideen, neuen Ausrichtungen, um den Herausforderungen, die der politische Herbst mit sich bringt, zu begegnen?«
    Der Pressesprecher stand neben der Wand, wie ein Tiger bereit zum Sprung ins Bild, ihm war offenbar nicht wohl. Denn genauso gut hätte man die Kapitänin einer Hurtigrouten-Fähre zu Tiefseebohrungen im südwestpazifischen Tongagraben befragen können. Aber es gab ja das Wording. Er hielt sich zurück.
    Och, so schlimm sind die Fragen ja gar nicht, dachte sie. Sie nickte kurz, schob ein Lächeln ins Gesicht und sagte: »Och, so

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