Die Eisläuferin
unter den Fingernägeln juckte, und wenn sie sich von diesen Gefühlen leiten ließ, schien sie in einer verheißungsvollen Ecke ihrer Seele anzukommen, in der sie, so schien es ihr, auch vor zwanzig Jahren noch nicht gewesen war. Sicher, man musste sie ein wenig schubsen, wie man eben jemanden schubsen musste, der ohne gepackte Koffer plötzlich in ein fernes, unbekanntes Land reisen sollte. Doch aus dieser ihr bis dato unbekannten Ecke ihrer Seele wollte sie jetzt mal so richtig demokratisch aufbrechen. Einfach so. Ohne ein Morgen. An diesem einen Tag. Denn am nächsten würde sie wahrscheinlich alles schon wieder vergessen haben. Es war wie ein Spiel: Sie hatte nun mal nichts weiter als sich selbst – und das Spiel gegen sich selbst.
|86| Mehr Zeit zur Muße blieb ihr nicht. Die Stylistin donnerte den Stecker in die Dose und warf den Föhn an. Heiße Luft, jede Menge heiße Luft plötzlich.
Sie hätte nicht allein in ihr Büro gefunden, aber ihre Büroleiterin machte ihrer Berufsbezeichnung auch wortwörtlich alle Ehre und manövrierte sie unauffällig schnellen, geschäftigen Schrittes über die Flure.
Man verlor keine Zeit: »Als Erstes haben wir heute die Morgenrunde, die machen wir jetzt immer etwas länger, Sie wissen schon, der kleine, eingeweihte Kreis. Hier können Sie so sein, wie Sie sind, wir wissen, was mit Ihnen los ist. Dann haben wir um 10.30 Uhr die erste Kabinettssitzung nach der Sommerpause, anschließend eine kurze Journalistenfragerunde in der Sky-Lobby vor Ihrem Büro für einen kurzen O-Ton .«
»Einen Oh-Ton?«
»Ja, Sie beschreiben kurz die Lage unter Berücksichtigung der jüngsten Vergangenheit und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Zukunft. Das sagen wir Ihnen dann noch.«
»Hm. Und was steht sonst noch an?«
Die Büroleiterin balancierte einen Stapel Unterlagen kapriziös auf ihren Unterarmen. Sie musste jetzt noch mehr für ihre Chefin lesen als früher, ließ sich aber augenscheinlich nicht aus der Ruhe bringen: »Danach diverse Fraktions- und Beratertermine. Ab 18.00 Uhr dann Dimitrij mit dem Gedächtnistraining. Wir fahren noch den reduzierten Plan.« Ihr Termin-Stakkato schien ihr in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, sie verzog keine Miene.
»Sind Sie echt?«
Die Büroleiterin ließ jetzt doch zwei Akten fallen. Sie fielen weich, man hörte es kaum. »Um Himmels willen, |87| was wollen Sie denn damit sagen? Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten!«
»Entschuldigung. Das war ein Witz.« Es tat ihr aufrichtig leid, sie brachte die Leute um sie herum wohl ein wenig aus dem Gleichgewicht. Und dennoch, es war so unendlich schwierig, sich jeden Tag aufs Neue sogenannten »Vertrauten« anzuvertrauen. Sicher, man musste Vertrauen schenken, um Vertraute zu haben, aber woher sollte sie wissen, ob diese Frau tatsächlich zum »kleinen Kreis« gehörte? Es gab so viele Realitäten, man konnte sich einfach nie sicher sein.
»Sagen Sie, was hat mich als Kind immer begeistert?«
Die Büroleiterin rollte mit den Augen. »O nein, das ist jetzt wohl der Zugangscode? Das werden Sie mich jetzt jeden Morgen fragen, nicht wahr?«
»Das weiß ich nicht. Kann sein. Nun sagen Se mal.«
»Das Lockern von Überwurfmuttern bei Dunlop-Fahrradventilen.«
Dies war eine äußerst beruhigende Antwort, aber man musste den Dingen auf den Grund gehen, letzte Vorbehalte aus dem Weg räumen, wenn Leute sagten, man könne sich ihnen anvertrauen. Also: »Und was konnte ich als Kind gar nicht?«
»Links und rechts auseinanderhalten.«
Auch das war nicht verkehrt, und es kam mit einer derart gelangweilten Selbstverständlichkeit, dass sie dieser Frau ein Stückchen kostbaren Glaubens schenkte und sich die Tür zum Büro aufhalten ließ.
Der MAV und der Regierungssprecher saßen bereits an dem großen schwarzen Besprechungstisch und wirkten etwas verloren. Es war still, und es war vorher wohl auch still gewesen. Im Auge des Orkans wurde offenbar nicht viel |88| diskutiert. Als sie sich umblickte in diesem weiten Raum, entwich ihr ein: »Huch. Also. So modern, so viel Schwarz.« Sie ging zum Schreibtisch, tippte einen kleinen Globus an – »sogar die Ozeane sind da schwarz« – und steuerte dann auf das Gemälde hinter dem Schreibtisch zu. Den kannte sie, den Mann darauf. Sie strich mit der flachen Hand über die Unterkante des gemalten Sakkos und kratzte etwas daran. Dem MAV entwich ein »Vorsicht!«
»Sieht alles so aus, als würden sonst nur Männer hier arbeiten,
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