Die Eisläuferin
Können Sie also Ihre Frage noch einmal etwas klarer wiederholen?« Die Journalistin tat es, zack, wenn auch für sie immer noch nicht klar genug.
Sie kam ins Stocken. »Richtlinienkompetenz«, »Wachstumsbeschleunigungsgesetz«? Wer hatte sich nur solche Wörter ausgedacht, die allein schon beim Aussprechen verdammt viel Zeit in Anspruch nahmen? Konnte man Wachstum per Gesetz regeln? Sie konnte sich absolut keinen Reim darauf machen. Also gut: »Ach Gott, wir haben ja alle unsere Frustrationen und unser Ego. Aber jetzt müssen wir die Summe unserer Einzelentscheidungen durch eine gemeinsame Überschrift zu einer erkennbaren Politik bündeln.«
Es gab keine Rückfragen. Erstaunlich, fand sie. Dann doch eine: Heuschrecken. Ob die Heuschreckenplage nun definitiv der Vergangenheit angehöre?
Um Himmels willen, was sollte denn diese Frage? Ein Blick zum Pressesprecher würde nichts nützen und vor allem mitgefilmt werden. Also Heuschrecken. »Nun ja, Wanderheuschrecken kommen auf fast allen Kontinenten vor, nicht wahr? Aber wissen Sie, sofern ich das bisher feststellen konnte, läuft keine vor mir und auch keine mehr neben mir. Und ich weiß, dass hinter marschierenden Heuschrecken eine wichtige Antriebskraft steckt, nämlich das einfache Bedürfnis, nicht vom Hintermann aufgefressen zu werden. Ich sage also: Abstand halten und schneller sein. So einfach ist das. Gibt es sonst noch Fragen?« Sie legte den Kopf leicht schräg und fuhr sich mit der flachen Hand durch die Haare.
|105| Abschließender Applaus, die Journalisten verließen langsam das Foyer – ohne Inhalte auch dieses Mal, aber in bester Laune.
Der Pressesprecher warf sich fotogen ins Bild, um für klärende Antworten auf offene Fragen zur Verfügung zu stehen. Doch es gab keine mehr. Er war sich gar nicht sicher, ob er das alles jetzt katastrophal oder brillant finden sollte. Beides lag ja oft nahe beieinander, gerade in den Medien. Und das vermittelte er auch im Anschluss seiner Chefin: »Es war riskant, sehr riskant, von Anfang an, Sie vor die Kameras zu lassen, aber ich habe gedacht, dass Sie sich wenigstens an unser Wording halten? Sie haben kein einziges Mal ›Vertrauen schaffen – Wachstum stärken – Beschäftigung sichern‹ gesagt. Das muss ich jetzt auch mal sagen dürfen!«
Sie hörte ihn von Ferne, war von rechts aus dem Bild gegangen, um dann kurz von links noch einmal hineinzulaufen und in ein paar verbliebene Kameras zu winken. Sie fand es köstlich, hatte sich selten so amüsiert – so weit sie sich erinnern konnte.
|106| Die Baikalwellen und der Abendpfirsich
Er war außer sich gewesen, hatte vorübergehend Bilder abhängen und Teppiche einrollen müssen. Es war einiges zu Tage gekommen dabei. Was für ein Aufwand wegen einiger weniger, winziger Abhörgeräte. Und dann in den eigenen vier Wänden, an einem privaten Ort also. Das Problem war endgültig zu Hause angekommen.
Die ganze Aktion bereitete ihm nun seit dem frühen Nachmittag Magenkrämpfe, die mit Kopfschmerz und Übelkeit einhergingen. Das Risiko akuter Unpässlichkeit war also enorm, wenn auch immer noch relativ zum Rest des ganzen Desasters, in dem sie steckten.
Bei den vier Wänden handelte es sich, genauer betrachtet, um das heimische Arbeitszimmer seiner Frau, wo der russische Therapeut therapieren sollte. Da wollte man schon mit einem Ohr dabei sein, hatte man ihm mitgeteilt, aus sicherheitstechnischen Gründen. Er hatte sich an ungute Zeiten erinnert gefühlt und anfangs entschieden protestiert. Doch der MAV hatte die Abhöraktion zu seiner persönlichen Mission gemacht – und natürlich: »Alle Bänder an mich. Ausschließlich. Das werden Sie doch verstehen.«
Er hatte auch um Himmels willen kein zusätzliches heimisches Ärzteteam hinzuziehen wollen – EKG, Kernspin, Transfusionen, neurologische Untersuchungen mit spitzen Nadeln und bunten Kabeln, Monitoren. Sie hätte in eine |107| Klinik gefahren werden müssen. Mehr als ein Mal. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse gewesen. Krankheit kam ja immer gut. Und für die Opposition hätte es Tür und Tor geöffnet. Das müsse er doch verstehen, hatte der MAV gesagt.
Er war noch nicht überzeugt gewesen, hatte ernsthafte Bedenken geäußert, was die Genesung seiner Frau anging, weil so nicht alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft würden. Man wolle das Amt retten, aber nicht seine Frau. Schließlich könne man ja alles Mögliche mit ihr anstellen, ohne dass es selbst der eingeweihte Kreis
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