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Die Eisläuferin

Die Eisläuferin

Titel: Die Eisläuferin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Münk
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ihrem Kopf. Damit konnte sie nicht allzu viel Schaden anrichten, fand sie, und es war durchaus der Rede wert: Thema der Französischen Revolution, aller bisherigen U S-Präsidenten , Friedensnobelpreisträger und des Demokratischen Aufbruchs. Sie hob den Kopf und begann.
    Zehn Minuten später hatten die ersten Zuhörer bereits alle Fotos gemacht, die sie hatten machen wollen, und verließen den Saal. Ein junger Mann lief an ihr vorbei, und sie hörte ihn zu seiner Begleiterin sagen: »Von was redet die denn? ›Keine Freiheit ohne Verantwortung‹? Schiss, wa?«
    Sie wurde lauter, variierte ihre Worte leicht. So abstrakt war die Freiheit doch gar nicht, mit etwas Vorstellungsvermögen konnte man ganze Revolutionen damit vom Zaun brechen. Das musste doch noch drin sein in den Köpfen. Wie brachte man das denn rüber, damit der Funke übersprang? Allein über den Kopf schien es nicht zu gehen. Also gut, Gefühle. Was gab es da? Langsam, ganz langsam kam ein wenig Wut hoch. Vielleicht lag es an der Wärme in diesem Raum mit all diesen Menschen. Ja, es |146| musste die Hitze sein, die sie wieder überkam. Wozu gab es eine Klimaanlage? Sie konnte nichts surren hören, wo doch sogar die kleinen roten Lichter an den Pulten der Dolmetscherkabinen blinkten. Alles lief, auch der Schweiß. Sie wartete noch ein wenig darauf, dass die Wut ihr auf der Zunge lag, und es funktionierte. »Ich sag Ihnen mal was. Sie wollen Gewissheit gegen die Verunsicherung, aber vollständige Sicherheit kann niemand auf der Welt geben. Es gibt keine Lichtgestalten hinter den Mikrophonen, die alles richtig machen und sich kümmern. Vergessen Sie’s! Nichts ist selbstverständlich, auch die Freiheit nicht!«
    So. Sie dachte, dass das jetzt wohl reichte mit der Wut. Doch die blieb hartnäckig, und bevor sie noch etwas dagegen tun konnte, öffnete sich ihr Mund wieder: »Wissen Sie eigentlich überhaupt, dass Unsicherheit ein Luxus ist im Vergleich zur bloßen Verordnung? Wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich wollen Sie sich gar nicht freiheitlich entscheiden. Also, ich sag Ihnen jetzt mal was: Ich bin’s leid mit Ihnen! Schiss, wa?«
    Als sie aufhörte zu reden, trat Schweigen ein. Ob kurz oder lang, da war sie sich nicht sicher. Aber immerhin blieben die sitzen, die noch da waren. Es ging also doch, manchmal reichte es, einfach zu sagen, was man dachte. Und es stand ihr bis zum Halskragen: »Haben Sie eigentlich eine Ahnung davon, wie schwierig es mitunter für mich ist, die Wahrheit zu erfahren? Dann mal her damit! Ich will etwas von Ihnen hören, denn das ist meine einzige Chance, den Tag hier halbwegs informativ abgewickelt zu kriegen. Glauben Sie mir, ich meine es ernst, ich zeichne das auf, ich sehe mir das gleich morgen wieder an! Denn ich will mich daran erinnern können!«
    Wortloses Staunen, erster Applaus erhob sich. Und dann kamen sie, die ersten Wortmeldungen, zögernd, vereinzelt |147| zunächst, dann mehr, dann lauter. Nach zwanzig Minuten war so etwas wie ein Dialog zustande gekommen. Sicher, das mit der Basisdemokratie war wie mit den wilden Tieren, einmal frei gelassen, war das Chaos vorprogrammiert. Aber alles besser als Stille.
     
    Der MAV versuchte an Giscard d’Estaing zu denken, um sich etwas zu beruhigen. Doch es funktionierte nicht, und seine Anweisung ins Headset kam gefaucht: »Gehen Sie um Gottes willen dazwischen. Jetzt redet die von Quereinsteiger-Quoten, nur weil sie selbst eine war, von Strukturen und neuen Köpfen! Sagen Sie ihm, dass er da jetzt rein muss. Erklären Sie ihm, die Auslandsreise sei urplötzlich gecancelt worden, verfrühte Schneestürme in den oberen Luftschichten des Kaukasus oder so. Er soll schleunigst Brücken bauen!«
    Die Mitarbeiterin des Bürostabs schlängelte sich mühevoll durch die auf dem Fußboden sitzenden Menschen und erreichte irgendwann das Ohr der Chefin. Sie wartete den Applaus ab. Es dauerte länger.
    »Wir haben Brüssel am Telefon.«
    »Ich rufe zurück.«
    »Das geht nicht. Man will nicht warten.«
    »Ich habe hier zu tun. Und wenn hier eine nicht warten kann, dann ich! Wird das hier eigentlich alles aufgenommen? Checken Se mal.«
    Die junge Frau verschwand durch die Tür, die sich gerade in diesem Augenblick von außen ganz weit auftat. Ein hochgewachsener Mann mit dezenter Brille kam mit großen, langsamen Schritten herein, eskortiert von einer blonden Frau und einem beeindruckenden Mitarbeiterstab. Er bahnte sich seinen Weg zu ihr und nahm ihre Hand in seine Hand.
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