Die Eisläuferin
»Es ist schön, dass ich heute hier sein darf. Man hat mich gerufen, und jetzt bin ich da. Aber wie ich sehe, ist meine Anwesenheit gar nicht erforderlich. Sie, werte Kollegin, sind gerade dabei, Ihr Volk zu einem diskutierenden Volk zu machen.« Er lächelte in die Runde, und es war, als lege sich eine Daunendecke über die Reihen, die die Stimmung im Saal nun wieder ein wenig dämpfte. Wie schade.
Sie musterte ihn von der Seite. Wer hatte den denn geschickt? Er kam ihr bekannt vor. Er trug eine ausgesucht schöne Krawatte und hatte etwas durchaus Freundliches, sehr Ausgleichendes an sich, wie es Leute haben, die Gartenschauen eröffnen. »Sind Sie auch ein Gast hier?«
Er schaute verwirrt, schien dann zu verstehen und erwiderte: »Nun, sind wir nicht alle Gäste in unseren Ämtern?« Es klang mehr entschuldigend als geistreich.
Sie durchlöcherte ihn mit Blicken. Es war nicht so, dass sie mit diesem Menschen keine Emotionen verband, und sie konnte sich mittlerweile ja durchaus an einige wenige Personen erinnern, Bruchstücke erahnen. Aber hier war es doch recht schwer. Er war wie seine Brille: randlos. Verdiente weder Hoffnung noch Verzweiflung, denn er war so neutral, und wenn man ihm nahe kam, fühlte man sich plötzlich auch neutral. Sie ahnte, dass man ihn mit Absicht zu ihr und den Leuten geschickt hatte.
Es kam Bewegung in den Saal, Aufbruchstimmung, und man schritt mit dem Strom der Menschen durch die weit geöffneten Türen wieder ins Foyer. Die Fotografen waren begeistert.
Beim Bad in der Menge fragte sie ihn: »Hören Sie, man hat doch mal einen ›Arbeitskreis Demokratischer Aufbruch‹ innerhalb der Partei ausgehandelt, nicht wahr? Gibt es den eigentlich noch?«
Er versicherte ihr, er würde dies recherchieren lassen, was |149| Anlass zu der Befürchtung gab, fand sie, dass auch ihm einige seiner Erinnerungen abhanden gekommen sein mochten. Denn so etwas hätte man doch wissen müssen.
Bevor sie wieder in den Wagen stieg, ließ sie Herrn Bodega die Videoaufnahme aus dem Konferenzraum holen, nach der noch niemand gefragt hatte. Sie war schneller gewesen, und das war besser so, dachte sie. Bei den Podcasts an diesem Morgen hatte sie festgestellt, dass sie auf dem einen bedeutend längere Haare hatte als auf dem anderen, das angeblich am Tag darauf aufgenommen worden war. So schnell wuchs kein Haar der Welt.
Zu Hause lag ein Hauch von Kohl in der Luft. Er musste in der Küche sein, und sie ging zögernd durch die Wohnung, streifte ihre Jacke ab und steckte den Kopf zur Tür herein.
Ja, es war Kohl. Ihr Mann war so vollends mit ihm beschäftigt, dass er sie erst jetzt bemerkte. »Liebes, ich habe gedacht, ich koche uns heute mal etwas richtig Sinnliches.«
»Kohl?«
»Ja, und zum Nachtisch habe ich die Pfirsiche dieses Mal püriert und eine leichte Karamellschicht mit etwas Calvados darübergelegt. Ich schau mal, ob ich die flambiert kriege. Unvergesslich, kann ich dir sagen.«
|150| Der halbe Rittberger
Er hatte sie flambiert bekommen, die Pfirsiche, und es war seit Langem einmal wieder spät geworden zu Hause. Für einen Moment war es so gewesen, als hätten sie beide das Vergessen vergessen, und er hatte schnell seine alte Kamera geholt, um ein Foto von ihnen zu machen, mit Selbstauslöser, vor den noch lodernden Pfirsichen, am Küchentisch. Ihm war ganz einfach danach gewesen, und sie hatte sich gar nicht über ihn gewundert, es hatte wohl den Selbstauslöser nicht nur in der Kamera, sondern auch in ihnen selbst gegeben. Die Tageszeitung allerdings, die er noch schnell ins Bild geschoben hatte, würde wohl nur ihn darauf hinweisen, wie aktuell diese Erinnerungen waren. Man hätte fast glauben können, dass die verloren gegangenen Jahre seiner Frau durchaus auch positive Elemente bargen, genauer genommen nicht die Jahre, sondern der Verlust derselben.
Seine Tage waren kürzer geworden, normalerweise ging er nun früher ins Bett, was sich in der einfachen Tatsache begründete, dass er morgens vor ihr aufstehen musste, um das Material und die Technik startklar zu machen. Der MAV hatte am Abend zuvor noch höchstpersönlich vorbeigeschaut und nach einer Aufnahme vom Tag der offenen Tür gefragt. Man hatte die Wohnung auf den Kopf gestellt und nichts gefunden. Die Dinge nahmen langsam eine eigenartige Wendung, fand er. Irgendetwas stimmte nicht.
|151| Peach Garden. Das Raumspray stand griffbereit im Bad, und er unternahm damit seinen allmorgendlichen Gang durch die Wohnung, um hier
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