Die Eismumie
Zwischenspiels, als es hinter den Rollläden langsam hell wurde, fühlte es sich in diesem Krankenzimmer so sicher und normal an, wie es sich in Groves stürmischem Leben in so gut wie keinem Raum je angefühlt hatte.
Als er kurz vor neun Uhr schließlich aufwachte, schien sein Körper auf sonderbare Weise wieder geheilt zu sein.
Seine Hände hatten ihre Beweglichkeit fast vollständig wiedergewonnen, obwohl sie sich etwas steif anfühlten, und die Wunden an seinem Oberkörper und den Oberschenkeln waren so weit verheilt, das die Haut anfing zu jucken. Selbst das Schwindelgefühl, das ihn die letzten Wochen geplagt hatte, war verschwunden.
Er wünschte seiner Mom einen guten Morgen, stieg aus dem Bett und traf dann die Vorbereitungen für seine Entlassung. Um der alten Zeiten willen half Vida ihm beim Anziehen. Grove musste grinsen, als sie sein Jackett – noch immer in der Plastikhülle der Reinigung – am Fuß des Betts ausbreitete, wie sie eine Million Mal seine Mehlsack-Dashikis auf dem Bett drapiert hatte, als er ein Junge war. Mit aller Sorgfalt legte sie auch seinen Aktenkoffer, der aus dem Jeep Cherokee von Special Agent Flannery geborgen worden war, neben das Kopfkissen. Grove blickte nachdenklich auf den Aktenkoffer.
Er überlegte, was er mit den Sachen darin machen sollte – der .357er Tracker, der noch im Halfter steckte, der Schnellladegurt, der Palm Pilot, die Notizbücher, der arg mitgenommene Kassettenrecorder, die Handschuhe (aus Gummi und aus weißem Stoff), die Unterlagen zu den Fällen, die alte Polaroidkamera. Das Handwerkszeug seines Berufs. Er wollte es nie wieder sehen. Es hatte seine Dienste getan. Er klappte den Deckel auf.
Die Scharniere knirschten.
Im Aktenkoffer steckte zwischen der Waffe, den Notizbüchern und den elektronischen Geräten in seinem kleinen Lederbeutel auch der Glücksbringer von Hannah. Grove zog ihn aus einer Seitentasche mit Gummizug hervor und öffnete ihn. Der Talisman war im Laufe der Jahre blank gerieben worden, so oft hatten seine nervösen Finger ihn betastet. Grove betrachtete die winzige Lupe, deren Linse ein haarfein gezackter Riss verunstaltete, strich mit der Fingerspitze über die Spindel und streichelte sanft das ins Leder geprägte Wort: SHERLOCK. Er fragte sich, ob er den Glücksbringer Maura County schenken sollte.
Die Einsicht, dass er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte und Maura County in Wahrheit liebte, war im Schlaf über ihn gekommen. Wie eine Blume, die nur im Dunklen erblüht, hatte sein Unterbewusstsein alle Arbeit geleistet. Beim Aufwachen hatte sein Entschluss festgestanden. Er würde sich aufmachen, um Maura zu finden, und er würde sie zurückerobern.
«Was geschieht als Nächstes?», fragte Vida, die nahe der Tür stand und ihre Hände rang.
Grove zog sein Sportsakko an, zupfte sorgfältig die Ärmel zurecht und warf dabei – immer modebewusst – einen Blick in den Spiegel. «Ein paar unerledigte Dinge noch, und dann quittiere ich den Dienst. Ich sehe zu, dass ich nach Hause komme, und dann schlafe ich eine ganze Woche.»
«Das ist richtig, ein Junge braucht seine Ruhe.»
Grove schmunzelte und klappte den Aktenkoffer zu. Er ging zu seiner Mutter hinüber und ergriff sie an den Armen. «Und so bald wie möglich werde ich dich in Chicago besuchen – also sieh zu, dass du deinen Harissa-Eintopf auf den Herd bringst.»
Vida strahlte heller als tausend Sonnen.
Für einen Afrikaner ist alles ein Ritual. Sogar für einen gefallenen und assimilierten wie Grove.
Nachdem ihm der Arzt die vollständige Genesung bescheinigt hatte und er aus dem Olympia General entlassen worden war, nahm Grove ein Taxi und ließ sich zum nächsten Postamt fahren. Dort packte er seine FBI-Dienstmarke mit aller Sorgfalt und fast feierlich in einen Eilbotenumschlag. Ohne eine Anmerkung oder Erklärung beizulegen, adressierte er den Umschlag an:
Chief Thomas Geisel
Section BSD 1333
Federal Bureau of Investigation
J. Edgar Hoover Building
935 Pennsylvania Ave.
NW Washington D. C. 20535
Als er fertig war, stellte Grove sich in die Warteschlange. Er dachte über Maura nach und fragte sich, was er zu ihr sagen sollte. Er wollte mit ihr ganz von vorne anfangen. Er wollte sie auf altmodische Weise umwerben. Er stellte sich vor, wie er sie in ein Cafe in San Francisco ausführte, irgendein Beatniklokal, wo er ihrer Lebensgeschichte lauschen würde. Schließlich hatte er den Anfang der Schlange erreicht, und als das nächste Fenster
Weitere Kostenlose Bücher