Die Eismumie
Sozialwissenschaften oder so», fuhr Okuda fort. «Kurz nach dem Mumienfund hat sie den Dienst als Ranger quittiert. Ich glaube, sie ist wieder nach Denver gezogen. Aber setzen Sie sich doch…» Okuda deutete auf den Konferenztisch. «Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen, und benutzen Sie einfach das Haustelefon, wenn Sie etwas von mir wollen. Wählen Sie die 8 – 2 – 1.»
Der Profiler bedankte sich mit einem Kopfnicken und setzte sich an den Tisch.
Von da an wandte er den Blick nicht mehr von den Tagebuchseiten ab.
19. März
Was ich heute erlebt habe, ist wirklich unglaublich… Der Tag begann wie jeder andere auch und endete wie ein böser Traum. Die Geschichte ist so phantastisch, dass ich beschlossen habe, sie zu Papier zu bringen, bevor ich auch nur ein Detail vergesse…
Es war gegen Viertel vor sieben morgens. Ich frühstückte gerade in meiner Ranger-Hütte, las in der Zeitung und trank meine erste Tasse Kaffee. Von draußen drangen das leise Plätschern des Baches und der Gesang der Vögel zu mir herein. Es schneite noch immer leicht, und durch die Türritzen fegte ein kalter Wind. Plötzlich wurde die Idylle von lauten Stimmen zerschnitten. Ich hörte, wie ein Mann und eine Frau sich stritten. Worum es dabei genau ging, konnte ich nicht verstehen, aber sie waren beide wütend aufeinander – wobei der Ärger in der Hauptsache von der Frau auszugehen schien; sie tobte regelrecht vor Zorn.
Ich sah neugierig zum Fenster meiner Hütte hinaus und entdeckte das Pärchen nicht weit entfernt am Anfang des Wanderwegs, wo die Birken eine Lichtung bilden. Sie waren beide mittleren Alters und trugen ein großes, langes Objekt zwischen sich. Ich konnte nicht genau erkennen, worum es sich dabei handelte. Das Ding glich einem riesigen, dunklen Kokon, an dessen Enden die beiden Stöcke als Tragegriffe befestigt hatten. Ich nahm mein Walkie-Talkie und lief aus der Hütte zu ihnen hinüber.
Es gibt strenge Regeln in dem Naturpark. Schon während der Ausbildung zum Ranger hatte man mir eingebläut, dass die Unversehrtheit von Flora und Fauna oberste Priorität genoss; es war den Besuchern streng untersagt, etwas aus dem Park zu entfernen. Und diese beiden Wanderer hatten offenkundig die Absicht, dieses Ding von hier fortzuschaffen, also blieb mir keine andere Wahl, als hart durchzugreifen. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich zum ersten Mal mit einem solchen Vergehen konfrontiert sah. Mein Herz raste vor Aufregung, als ich mich den beiden näherte. Ich rief ihnen zu, auf der Stelle stehen zu bleiben. Ein wenig mehr Menschenkenntnis und ein Blick auf die Designer-Wanderkleidung, die die beiden trugen, hätten mich wahrscheinlich davor gewarnt, mit wem ich es hier zu tun hatte. Sie gehörten zu jenen stinkreichen Yuppies, die meinten, die Welt sei ihnen Untertan und sie könnten tun und lassen, was sie wollten. Mein Hinweis auf die strikten Bestimmungen des Parks brachte die Frau erst richtig in Rage.
«Sie haben doch nicht die geringste Ahnung, worum es hier geht», brüllte sie mich an. Sie sah erschöpft aus, und an ihrem faltigen Hals schwollen die Adern vor Anstrengung. Etwas an ihr irritierte mich. Sie gehörte nicht zu diesen Frauen, die Angst haben, sich die nagelneuen Wanderstiefel zu besudeln, und ständig um ihre manikürten Fingernägel fürchten. Nein. Diese Frau war ernsthaft verunsichert, und in ihrem Gesicht zeichneten sich deutlich die Strapazen ab, die sie auf sich genommen hatte. In ihren Augen lag ein Ausdruck, als hätte sie soeben einen Geist gesehen. Das bestärkte meinen Argwohn, und ich bat die beiden, mich zu meiner Hütte zu begleiten.
In diesem Jahr war der Winter in Alaska außergewöhnlich mild gewesen, und wir erlebten einen warmen, nassen Frühling. Der Boden war weich und schlammig, und das Wasser spritzte hoch, als die beiden dieses Ding, das sie mit sich trugen, vor meiner Hütte niedersetzten. Die Frau hatte sich mittlerweile ein wenig beruhigt und sagte nun in gemäßigtem Tonfall zu mir: «Wir hätten es eigentlich nicht anfassen dürfen, das weiß ich. Aber wir konnten es doch nicht einfach da oben liegen lassen? Wenn Sie uns verklagen oder ein Bußgeld auferlegen wollen, können wir Sie wohl nicht daran hindern.»
Der Mann sagte nichts. Er stand wie zur Salzsäule erstarrt da und schaute mich mit leerem Blick an. Er war groß und kräftig und trug eine Veloursjacke. Wenn es ihm nicht an Mut gefehlt hätte, hätte er sich ohne weiteres auf mich stürzen
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