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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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und mich überwältigen können.
    Ich beugte mich über das Ding am Boden, um zu sehen, worum es sich überhaupt handelte.
    Es mögen sicherlich nur Sekunden gewesen sein, aber für mich schienen es lange Minuten zu sein. Ich stand einfach nur regungslos da und brachte keinen Ton heraus.
    Die Ausbildung zum Park-Ranger bereitet einen auf die unterschiedlichsten Notfälle vor. Man lernt, auch in einer Krisensituation ruhig zu reagieren und sich nicht so leicht aus der Fassung bringen zu lassen. «Verhalte dich immer wie ein Profi», war einer der ersten Sätze, den mir die Ausbilder eingeschärft hatten. Doch in den Lehrbüchern oder dem Handbuch über den Dienst in Naturparks stand keine Zeile über das geschrieben, womit ich es hier zu tun hatte.
    Ich starrte auf das lederne Gesicht am Boden. In den großen Augenhöhlen lagen wie zwei getrocknete Pflaumen die ausdruckslosen Augen dieser Mumie oder was auch immer dieses Ding war. Sosehr mich der Anblick verstörte, auf eine seltsame Weise faszinierte mich diese Fratze auch.
    Was sollte ich tun? Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Die beiden berichteten mir, wo sie den Leichnam gefunden hatten. Eigentlich war es der Ehemann gewesen, der den Fund gemacht hatte. Er hatte sich ins Gebüsch schlagen wollen, um seine Notdurft zu verrichten. Als er mir erklärte, dass dies bei der Zehn-Kilometer-Wegmarke gewesen sei, glaubte ich meinen Ohren nicht zu trauen. Dieser Teil des Wegs zählt zu den beliebtesten Gegenden auf dem Berg. Es ist die Kreuzung, wo der Anfängerpfad in den Weg für Fortgeschrittene übergeht. Ich schätze, dass über eine Million Leute an der Stelle vorbeigekommen sein müssen, seit der Park 1927 eröffnet worden ist. Fast achtzig Frühlingsperioden mit Tauwetter. Und dann findet ausgerechnet dieser Kerl dort eine Mumie?
    Ich bat die beiden, so lange in meiner Hütte zu warten, bis ich die Polizei verständigt hatte. Dieses Paar werde ich wohl nie vergessen: Helen und Richard Ackerman aus Wilmette, Illinois. Später, als ich versuchte, die Chronologie ihrer Entdeckung nachzuvollziehen, fand ich alles über ihr reiches Leben im Mittleren Westen heraus, ihre Hunde, ihre Autos, ihr Segelboot und all diesen teuren Unfug.
    Über mein Handy rief ich im Büro des Sheriffs an. Morgens um diese Zeit hatte der junge Hilfssheriff Nick Sabitine Dienst. Ich kannte Nick von Softball-Spielen in unserem County. Er war ein anständiger Kerl, etwas schüchtern zwar, aber ansonsten sehr umgänglich. Nick gefiel es, den Detectives bei ihrer Arbeit über die Schulter zu schauen. Er hatte wahrscheinlich schon unzählige Briefe an seine Vorgesetzten geschrieben, mit der Bitte, ihn auf Fortbildungslehrgänge zu schicken. Da seine Ersuchen aus unerfindlichen Gründen abgelehnt worden waren, war es kaum verwunderlich, dass Nick Sabitine große Ohren machte, als mein aufgeregter Anruf ihn an diesem Morgen erreichte.
    Nick schaffte die Fahrt in weniger als zwanzig Minuten. Als er ankam, war ich das reinste Nervenbündel, denn in der Zwischenzeit hatten sich bereits die ersten Schaulustigen um die Leiche herum versammelt, und außerdem musste ich dafür sorgen, dass die Ackermans meine Ranger-Hütte nicht verließen.
    Nick warf einen kurzen Blick auf die Mumie, trieb die Leute auseinander und sperrte den gesamten Bereich mit gelbem Plastikband ab. Die Ackermans mussten auf der Rückbank seines Streifenwagens Platz nehmen, während Nick die Spurensicherung verständigte.
    Noch etwas sollte ich erwähnen: Nick hatte in diesem frühen Stadium bis auf den grässlichen Gesichtsausdruck der Mumie keinen Hinweis darauf, dass es sich bei dem Leichnam um etwas anderes handelte als einen unglücklichen Bergsteiger oder Wanderer, der vom Pfad abgekommen und in eine Schlucht gestürzt war. Die Vermutung, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte, kam erst ungefähr eine Stunde später auf, als Lieutenant Alan Pinsky eintraf, ein Detective vom Morddezernat in Anchorage.
    Pinsky traf um etwa elf Uhr ein und übernahm sofort die Leitung vor Ort. Er erinnerte mich an Napoleon: klein, untersetzt und kahlköpfig, aber als Ausgleich von der Natur mit einer eisenstarken Persönlichkeit ausgestattet. Seine kleinen, listigen Knopfaugen erfassten sofort die Situation und musterten die Mumie mit professioneller Neugierde. Er vermutete gleich, die Leiche könne zu der Bergsteigergruppe gehören, die hier vor ein paar Jahren abgestürzt war; einer der Männer war noch immer spurlos

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