Die Eismumie
blickte ihm nach. Der brennend kalte Wind und die unerwarteten Gefühle trieben ihr die Tränen in die Augen.
Kapitel 8
Der Geist im Dreiteiler
«Es müsste gleich hier links sein.» Grove sah vom Stadtplan auf und musterte den geschmackvollen Lattenzaun, der die Straße säumte. Sie waren die fünfzehn Meilen vom O’Hare International Airport durch ein heftiges Frühlingsgewitter gefahren, doch nun zogen die Regenwolken ab und gaben den Blick auf den sternenklaren Nachthimmel frei.
«Verdammt, ich habe mir wirklich den falschen Beruf ausgesucht», verkündete Zorn, als er die Limousine vor dem Haus Nr. 2233 N an den Straßenrand lenkte. Die Linden Avenue war eine lange Allee von alten Bäumen, hinter denen sich prunkvolle Villen im viktorianischen Stil versteckten. Gaslaternen illuminierten die ausladenden Auffahrten der Anwesen, und von den kupfernen Dachrinnen fielen mit leisem Geräusch die Regentropfen zu Boden. Es roch nach gutem, altem Geld.
Die Ackermans bewohnten einen massiven Bau im Queen-Anne-Stil mit einer abgeschirmten Veranda, die sich ums ganze Haus zog, und mehr Dachgauben am Haus als an einem Hotel aus dem 18. Jahrhundert. Die meisten Rollläden waren heruntergelassen. Grove und Zorn zogen ihre Jacketts an, als sie aus dem Wagen stiegen, und Zorn drückte seinen Cowboyhut fest auf die blank polierte Glatze. Schweigend überquerten sie die ausgedehnte Rasenfläche und stiegen dann die breite Treppe zur riesigen Eingangstür aus Eichenholz hinauf.
Die Türglocke hörte sich an wie das Läuten der St.-Mary-Kathedrale.
«Jassir?» Eine pummelige, dunkelhäutige Frau in blassblauer Uniform stand hinter der riesigen Tür. «Kann ich helfen?»
Grove stellte sich und seinen Partner vor und sagte der Haushälterin, dass sie gekommen seien, um mit Mrs. Ackerman zu sprechen.
«Erwartet die Missus Sie?»
«Ja, sie weiß von unserem Kommen», sagte Grove mit einem Lächeln.
Die Haushälterin ließ sie ein und bat um einen Augenblick Geduld, bevor sie über eine weite Treppe hinauf in die obere Etage verschwand.
Die beiden Männer blieben alleine im geräumigen Foyer zurück. Grove schaute sich um, bewunderte die gepflegte Atmosphäre des Hauses und das kostbare Mobiliar. Wie so oft in alten Villen, roch auch hier die Luft wie in einem Museum – eine Mischung aus Moder, Holzöl und kräftigen Gewürzen. Ein gigantischer hölzerner Treppenaufgang schwang sich von der Galerie im ersten Stock nach unten und dominierte die Eingangshalle. Grove konnte sich sehr gut vorstellen, dass Helen Ackerman während einer Party in einem Versace- oder Donna-Karan-Kostüm wie ein General zur Truppeninspektion schritt.
Wilmette, Illinois. Grove kannte diese Gegend aus seiner Kindheit. Er war zehn Meilen weiter südlich von hier aufgewachsen, in einem heruntergekommenen Teil von Chicago, den alle nur Uptown nannten. Kinder aus Uptown verschlug es nur selten in die reichen Gegenden der nördlichen Stadtteile. Uptown-Kinder spielten Straßenhockey in Gassen voller Unrat, schlossen sich Straßenbanden an und begannen dann meist eine kriminelle Karriere. Diejenigen, die nicht im Gefängnis endeten, arbeiteten zu einem Hungerlohn in einer Fabrik oder bei der Müllabfuhr. Es glich schon einem Wunder, wenn es einmal jemand aus Uptown zum Militär schaffte oder gar als Soldat studierte. Und nur sehr selten, vielleicht einmal in tausend Jahren, gelang es einem Uptown-Kind, sich ganz nach oben bis an die Spitze der Hierarchie hochzuarbeiten.
Das Murmeln einer Stimme drang aus den oberen Stockwerken herunter. Vielleicht war es das Dienstmädchen, das Mrs. Ackerman über die Gegensprechanlage über den Besuch unterrichtete. Grove dachte an seine Mutter; sie war ungefähr so alt wie die Bedienstete, die sicher derselben gesellschaftlichen Schicht entstammte. Vida Grove wohnte noch immer in Uptown, irgendwo in den Schluchten der Wohnblöcke und Mietskasernen entlang der Lawrence Avenue. Bis heute hatte sie es nicht geschafft, jener stickigen, kleinen Wohnung zu entkommen, in der Ulysses Grove seine Kindheit verbracht hatte. Wahrscheinlich beschäftigte sie sich jetzt gerade damit, auf dem altmodischen Herd in der Küche irgendein schauderhaftes afrikanisches Eintopfgericht zuzubereiten. Grove erinnerte sich daran, wie er an so manchem kalten Wintermorgen seine Hände über den glühenden Kohlen des Herdes gewärmt hatte. Er entsann sich, wie die Kälte an seinem Rücken unter den scheußlichen, von Hand gefärbten
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