Die Eismumie
«Und…?»
«Ulysses, nichts liegt mir ferner, als mich selbst zu loben, aber es ist mir wirklich unmöglich, Ihnen alles am Telefon zu berichten. Sie müssen es einfach mit eigenen Augen sehen.»
«Einen Moment bitte, Maura.» Ulysses wandte sich an Zorn, der die Limousine gerade auf den dicht befahrenen Highway lenkte. «Terry, mein Freund», sagte Grove, «was halten Sie von einem kleinen Abstecher nach San Francisco?»
Zorns Gesicht verzog sich zu einem anzüglichen Grinsen. «Grove, Grove, Grove, Grove…»
Nördlich des Columbia River versank die Sonne hinter den gezackten Bergspitzen der Coastal Range. Lange Schatten legten sich über die unbefestigten Straßen und Serpentinen, die sich wie dünne Adern durch das Gebirge schlängelten. Der Marionettenspieler hatte Richard Ackerman wieder unter seine Kontrolle gebracht.
Es ereignete sich in der Nähe des Vancouver Lake, dessen quecksilbergraues Wasser im letzten Tageslicht schimmerte. Der 97er Buick Regal fuhr an riesigen Einkaufszentren vorbei durch die kargen Vororte, die sich im Großraum Portland wie ein Flickenteppich über das Land ausbreiteten. Ackerman saß gebeugt über dem Lenkrad des Wagens, den er gerade vom Parkplatz eines Schrotthandels gestohlen hatte. Der Einfall war ihm ganz spontan gekommen: Die Tür des Wagens hatte offen gestanden und der Schlüssel im Zündschloss gesteckt. Das Eigenartige war, dass er gar nicht wusste, warum er sich den Buick genommen hatte – er wusste ja noch nicht einmal, wohin er überhaupt fahren wollte.
Richard Ackerman hatte noch nie ein Auto gestohlen. Während der vergangenen zwölf Monate hatte er entweder sein eigenes Auto gefahren – das er aber im letzten Herbst in einem Naturschutzgebiet in Iowa zurückgelassen hatte – oder er hatte öffentliche Verkehrsmittel benutzt. Jetzt rollten die abgefahrenen Reifen des Buick über den rauen Asphalt. Das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge flackerte in Ackermans Augen. Er verzog angewidert das Gesicht. Im Wagen stank es nach kaltem Rauch und altem Maschinenöl. Aus dem Radio plärrte monotone Techno-Musik, deren Bässe wie Faustschläge auf sein Gehirn eindroschen. Seine Nerven spannten sich an, und ein heißes elektrisches Stechen pochte in seinen Schläfen. Da geschah es. Eine kalte Metallhand packte seine Wirbelsäule und richtete ihn auf. Seine Zähne schlugen aufeinander. Vor seinem inneren Auge öffneten sich einmal mehr diese angekohlten, papyrusartigen Augenlider. Durch seine Augenhöhlen schauten sie nun in die Welt hinaus.
Richard Ackerman schrumpfte in sich zusammen. Seine Hände und Glieder krümmten sich, zuckten, verkrampften, um sich gleich darauf wieder zu strecken. Er fühlte sich wie eine Marionette, die dem Irrsinn eines verrückten Spielers ausgesetzt war. Eine Urkraft schoss durch seine Gefäße und Sehnen, durch Knorpel und Mark in seine Muskeln hinein. Dieses Ding, dieses unbeschreibliche Es ergriff wieder Besitz von ihm, und von Mal zu Mal gelang es dem Dämon besser, Ackermans Körper und Seele zu kontrollieren. Seine Hände klammerten sich so fest um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß unter der Haut hindurchschimmerten. Der andere Richard Ackerman war erwacht. Er kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen und raste mit dem Buick eine Ausfahrt hinunter in ein abgelegenes, kleines Dorf.
Barton, Washington, war ein verschlafenes Provinznest, das aus nicht viel mehr als ein paar hundert Doppelhäusern, maroden Hütten und verrosteten Wohnwagen bestand, die das Ufer des Lower River säumten. Der Buick röhrte über die zweispurige Asphaltstraße, die am Wasser entlangführte. Das Ding in Ackerman raste vor Hunger; sein stummes Heulen hallte in seinen Ohren wider. Das Ding war auf der Jagd. Es wollte fressen und seine Mission erfüllen.
Vor ihm ragte in der Nebelbank aus Staub ein Neonschild auf: REGAL MOTEL – ZIMMER FREI – FARB-TV – PAY TV – DIESES JAHR HOLT IHR DEN TITEL, BLUE DEVILS!
Ackerman trat mit voller Kraft auf das Bremspedal und riss das Lenkrad herum. Der Buick schleuderte in einer riesigen Staubwolke auf den schmalen Parkplatz vor dem Motel und kam nur wenige Meter vor dem Stromkasten neben dem Gebäude zum Stehen. Der Motor erbebte noch einmal, bevor er erstarb.
Stille kehrte ein. Richard Ackerman saß bewegungslos im Wagen. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Seine Hände hielten das Lenkrad noch immer wie zwei Schraubzwingen in ihrem Griff. Die Rezeption des Motels befand sich keine drei Meter von
Weitere Kostenlose Bücher