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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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ihm entfernt; durch die Frontscheibe des Gebäudes konnte er schemenhaft im bläulichen Flimmern eines Fernsehers zwei Gestalten ausmachen. Irgendwo in der Ferne erklang der Schrei einer Eule.
    In diesem Augenblick beschloss Richard Ackerman, dass der Mann und die Frau in der Lobby sterben mussten.
    Seine Werkzeuge befanden sich in der Sporttasche, die er bei dem Diebstahl in aller Eile auf den Rücksitz des Buick geworfen hatte. Ackerman stieg aus und öffnete die hintere Türe. Er stellte die Tasche auf den Boden und riss den Reißverschluss auf, in ihrem Inneren lagen verschiedene Riemen, Schnallen, Schafte von Golfschlägern, Rasiermesser und verrostete Werkzeuge. Während er im Schatten hockte und seine todbringenden Instrumente einsatzbereit machte, füllten sich Ackermans Augen mit Tränen. Sie liefen sein Gesicht hinunter, mischten sich mit dem Speichel, der sich an den Mundwinkeln und in den grauen Bartstoppeln am Kinn sammelte, tropften auf sein zerrissenes Flanellhemd und durchnässten den Stoff. Das Ding in ihm weinte ebenfalls. Es weinte stumm, während es sein Werk vollbrachte. Es bedauerte die Unschuldigen, all die Opferlämmer. Seine urzeitliche Mission – getränkt in Blut und Pein – ließ sich durch nichts vollenden als durch Tod, Chaos und Verwüstung.
    Ackerman schlang den Köcher über die Schulter und klemmte sich den Bogen unter den Arm. Er warf die leere Sporttasche zurück in den Wagen und ging langsam auf den Eingang zu. Er wirkte wie ein normaler Gast, der sich für eine Nacht einquartieren wollte – ein Jäger vielleicht, der von der Entenjagd auf Hayden Island kam. Das Ding sah durch Ackermans Augen hindurch in die Lobby. In dem Raum stand die Hitze der Heizkörper, und es roch nach verbranntem Kaffeesatz und Desinfektionsmitteln.
    «‘n Abend, Sir», sagte eine Stimme und lenkte den Blick des verwandelten Richard quer durch den Raum zu einem Tresen in Ellbogenhöhe, hinter dem ein kleiner, grauhaariger Mann in einer abgetragenen Strickjacke stand. Er trug eine schwere Hornbrille und war offenbar der Motelbesitzer. Dem Aussehen nach hätte er gut hundert Jahre alt sein können.
    «Glück mit der Jagd gehabt?»
    Richard Ackerman griff nach einem der Pfeile im Köcher, als er eine weitere Stimme vernahm.
    «Die Jagd mit dem Bogen ist so früh in der Saison noch verboten!»
    Es war eine weibliche Stimme, alt und heiser. Er drehte sich herum und betrachtete die fettleibige Frau, die auf einem Sessel vor dem Fernseher saß und sich CNN ansah. Neben ihr stand eine verbogene Gehhilfe aus Aluminium. Die Frau hatte ein Doppelkinn und trug ein verblichenes Hauskleid mit Blumenmuster. Das Fett an den Unterseiten ihrer Arme schwabbelte, als sie dem Fremden mit einem ihrer Wurstfinger drohte.
    «Ach, halt doch den Rand, Evelyn!», schnauzte der alte Mann sie an.
    Sie geiferte zurück: «Die Wildhüter fackeln nicht lange, wenn sie jemanden mit dem Bogen jagen sehen!»
    «Sei jetzt still!»
    «Ich mein’s doch nur gut.»
    «Gib jetzt Ruhe, damit der Herr sich eintragen kann!»
    Über die Schulter hinweg zog Ackerman einen Pfeil aus dem Köcher und legte an. Er spannte den Bogen, der ein leises Knirschen von sich gab. Die Frau hatte sich bereits wieder dem Fernseher zugewandt, während der alte Mann sie noch immer kopfschüttelnd ansah. Keiner von beiden nahm Notiz von dem seltsamen Wesen, das in der Lobby stand und sich anschickte, ihnen das Leben zu nehmen.
    «Soll er doch meinetwegen mit dem Bogen jagen», krächzte die Alte.
    «Halt jetzt endlich deine Futterklappe!», schrie der Motelbesitzer sie an.
    «Halt du doch den Mund, du alter Schlappschwanz!»
    «Ich setz deinen fetten Arsch gleich vor die Tür, das kannst du mir glauben!»
    «Red doch kein Blech, Pete!»
    Das Ding, das einmal Richard Ackerman gewesen war, rief plötzlich mit verzerrter, dröhnender Stimme: «UMDREHEN!»
    Die beiden Alten verstummten auf der Stelle. Der grauhaarige Mann starrte den Fremden an und sah dann kurz zu seiner Frau hinüber, die vor Schreck aschfahl geworden war. Niemand gab einen Ton von sich, nur der Fernseher lief weiter auf CNN. Eine Motte flatterte brummend gegen die Fensterscheibe. Richard Ackerman lächelte traurig. «Drehen Sie sich bitte um.»
    An diesem Abend arbeitete noch spät Michael Okuda alleine in seiner Wohnung. Er hatte sich bis auf die Unterwäsche ausgekleidet und saß inmitten von verstreuten Notizheften und Wörterbüchern auf dem Boden. Er hatte nur noch ein halbes Päckchen Heroin

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