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Die Eismumie

Die Eismumie

Titel: Die Eismumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jay Bonansinga
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im Haus und deshalb beschlossen, für den Rest des Abends nüchtern zu bleiben. Vielleicht erlebte er deshalb eine Offenbarung.
    Zuerst verschwamm das Flip-Chart, das er vor dem Sofa aufgestellt hatte. Dann konnte er seine Notizen nicht mehr entziffern; sie erschienen ihm plötzlich wie die sinnlosen Kritzeleien eines Vorschulkindes. Ein milchiger Film legte sich vor seine Augen. Er begann alles doppelt zu sehen. Und da machte er eine interessante Entdeckung.
    Okuda richtete seinen Blick auf die Symbole, die er mit Filzschreiber auf kleine Tafeln aufgezeichnet und überall in seinem Wohnzimmer verteilt hatte. Es waren Abbilder der Tätowierungen der Mumie, kleine Blumenblätter, die bisher nicht den geringsten Sinn ergeben hatten. Durch den Nebel vor seinen Augen entstiegen ihnen plötzlich geisterhafte Zwillingsbilder.

     
    Der alte Boris-Karloff-Film, den er sich mit Wendy angesehen hatte, hatte in ihm Bilder wach gerufen, die sich mit den geisterhaften Zeichen zu einer Epiphanie zusammenschlossen:
    Eine Mumie, die nach unten greift und dann sanft, fast zärtlich mit einer erstarrten Fingerspitze über eine uralte Schriftrolle streicht … ein aberwitziges Lachen ertönt aus dem Off.
    Okuda erkannte in den Tätowierungen mit einem Mal eine geheime innere Struktur: Sie waren Kryptographien! Symbole für Wörter! Anscheinend sumerischen Ursprungs, und das bedeutete… dass er sie übersetzen konnte!
    Ein linguistischer Erkenntnisdurchbruch ist für einen heroinsüchtigen Kryptologen ernüchternder als ein intravenöser Cocktail aus Koffein und Adrenalin. Er griff nach einem Kugelschreiber und stieß dabei eine Schachtel mit Käsecrackern um. Während er in seinem zerschlissenen Oxford-Zeichenlexikon herumblätterte, schrieb er wie ein Verrückter eine Übersetzung der Symbole nieder. Es war tatsächlich elementares Sumerisch: en-nu… en-nu-un… en-nu… en-nu-un. Michael stieß ein freudiges Kichern aus und bemerkte vor Aufregung nicht, dass er am ganzen Leib zitterte.
    Als er sicher war, die Phrase richtig übersetzt zu haben, hielt er inne und las sich das Geschriebene noch einmal durch. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er musste sofort jemanden anrufen. Mathis? Nein. Das Miststück würde ihn doch nur verspotten. Oder schlimmer noch: Sie würde diesen Durchbruch für sich beanspruchen. Okuda stand auf und durchmaß das Zimmer. Er kaute auf den Nägeln herum und überlegte.
    Vielleicht sollte er Grove verständigen.
    Richard Ackerman saß auf dem zerschlissenen Sofa in der blutverschmierten Lobby des Regal Motels und starrte mit leerem Blick in den Fernseher. Der Bildschirm war mit feinen Blutstropfen besprüht. Richard hielt den Kopf leicht angewinkelt und verfolgte eine Werbesendung für eine Küchenmaschine. In der einen Hand hielt er eine Zange. Die Leichen des alten Mannes und der fetten Frau lagen in dunkelroten Blutlachen auf dem blanken Fußboden und wurden langsam kalt. In ihren Nacken steckte jeweils ein Pfeil, der in die Höhe ragte wie die Fahne auf einem Putting Green. Hinter der Leiche des Motelbesitzers breiteten sich blutige Schleifspuren aus.
    Es wartete noch eine Menge Arbeit auf Richard Ackerman. Die Leichen mussten in Positur gebracht und die Pfeile mit der Zange herausgezogen werden. Dies war wohl der schmutzigste Teil der ganzen Angelegenheit – es erinnerte ihn an das Ausnehmen von Fischen –, denn die Pfeilspitzen hatten sich tief zwischen Knorpel und Sehnen des obersten Rückenwirbels gebohrt. Anschließend musste er die Körper in die richtige Stellung bringen. Er zelebrierte dieses Ritual wie eine heilige Messe: Er richtete zunächst den rechten Arm des Toten auf, trat dann zurück und betete in einer Sprache, die schon lange der Vergessenheit anheim gefallen war. Eines Tages würde sich der Kreis wieder schließen. Das Opfer wäre vollendet.
    Im Moment fand das Ding in Ackerman jedoch nicht die rechte Kraft. Der Körper dieses Mannes ließ sich nur mühsam in Bewegung bringen, zäh und langsam war er geworden, wie eine Maschine, die Sand im Getriebe hatte. Ein tiefer Schmerz pochte in seiner Brust; eine Angina verengte seine Gefäße und versteifte seine Gelenke. Er hatte ein schwaches Herz. Das Ding fragte sich, ob dieser Körper überhaupt die Strapazen der Mission überleben würde.
    Ohne auf den unerwarteten Schmerz zu achten, erhob sich Richard Ackerman und ging hinüber zur Leiche der Frau. Er beugte sich über sie und setzte die Zange an. Gerade wollte er den Pfeil

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