Die Eismumie
Bauch robbte Grove über den moosigen Boden auf Zorn zu.
Donner ließ die Luft vibrieren, und das Klingeln in Groves Ohren wollte gar nicht mehr aufhören. Er versuchte krampfhaft, sich an die Grundregeln israelischer Kampftechniken zur Abwehr von Aufständischen zu erinnern, die er auf der Akademie gelernt hatte. Man führt die Waffe, als würde man mit dem Finger auf das Ziel zeigen, und fokussiert die Kimme, nicht das Korn – oder war es anders herum? Vor Panik wurde ihm schwindlig.
Er erreichte Zorn und kam nahe genug an ihn heran, um das gurgelnde Keuchen zu hören.
«Tuuuu – mrrrr – Leihhh – » Zorn wurde von Zuckungen geschüttelt, sein blutbespritztes Gesicht verzerrte sich, und die Laute aus seiner verletzten Kehle klangen nur entfernt wie Worte. Zorn ertrank in seinem eigenen Blut. Sein Hals war durchbohrt, und ein abgebrochener Jagdpfeil trat im Nacken aus, wo die Spitze ein «V» bildete.
«Ist alles okay, ich bin ja hier, ich bin bei dir, Terry, bleib ganz ruhig, ich werde dich hier wegbringen – SCHEISSE!!»
Grove rappelte sich hoch in die Hocke, legte seinen Revolver ab, griff nach Zorn und versuchte, dessen Kopf in den Armen zu wiegen. Blutspritzer mischten sich mit Regentropfen. In Rinnsalen verließ das Leben Zorns Körper und versickerte in der feuchten Erde. Mit zitternden Händen presste Grove in dem vergeblichen Versuch, die Blutung zu stillen, ein großes Blatt gegen Zorns Hals.
Zorns Augen blinzelten krampfhaft in den Regen. « – mi-iihh – Leihhh – »
In diesem Moment wurde Grove klar, dass Terry Zorn zu sagen versuchte: Es tut mir Leid.
«Keine Sorge, Mann, du machst das schon, ich werd dich hier wegschaffen, es wird alles gut werden – » Grove warf einen Blick über die Schulter und fragte sich, was zum Teufel mit den anderen Jungs los war. Hatten sie sich verirrt? Groves Stimme übertönte den Regen: « – OFFICER VERLETZT! VERDAMMT NOCH MAL, OFFICER VERLETZT! OFFICER VERLETZT HIER OBEN! JEMAND SOLL SOFORT EINEN DOC HIER RAUFSCHAFFEN!»
Zorn wollte noch etwas sagen. Er reckte den Hals, und seine Lippen bebten. Grove beugte sich ganz dicht zu ihm. Regentropfen rannen wie flüssige Rubine über Zorns Gesicht.
«L-e-i-d», hauchte der Texaner und atmete stockend aus.
«Terry –?»
Grove schüttelte den Mann. «Terry!»
Nichts.
«TERRY!»
Terry war leblos wie ein Stein.
Grove starrte in die leeren, glasigen Augen des Mannes und konnte seinen Blick nicht abwenden. Ein intensives Gefühl wallte in ihm auf, und er tat etwas, das die Analysten des Einsatzes später als leichtsinnig, töricht und ausgesprochen amateurhaft verurteilen sollten: Er nahm seinen Freund in die Arme. Die Umarmung dauerte nicht lange – der blutgetränkte Regen floss zwischen den beiden Männern zu Boden, und Groves Kampf- oder Fluchtinstinkt meldete sich und sorgte dafür, dass sich die winzigen Nackenhärchen sträubten –, aber in diesem einen törichten und amateurhaften Moment verspürte Grove eine immense Traurigkeit und Zuneigung zu dem Texaner. Zorn war seit Jahren Gegner, aber auch Freund gewesen. Gelegentlich hatten sie zusammengearbeitet, aber zweifellos hatte Zorn in Grove auch – eine bedrohliche Konkurrenz gesehen. Doch jetzt, in diesem einen schrecklichen Augenblick der Klarheit, als der Körper des Toten noch warm in seinen Armen lag, hatte Grove das Gefühl, als würde die gesamte Spanne von Terry Zorns Leben mit seinen Enttäuschungen und Brüchen ihn durchströmen, mit all dem Leid und Kummer, mit dem Vater, dem er es nie hatte recht machen können, mit den hohenAnforderungen, die nicht zu erfüllen gewesen waren. Tränen traten Grove in die Augen. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Er hielt seinen verstorbenen Freund noch einen kurzen Augenblick in den Armen, bis er ein neues Geräusch hörte, das ganz aus der Nähe kam, ein Geräusch, das jeder einfachen Entschlüsselung trotzte, ein Geräusch, das durch Groves Schädeldecke drang und die Saiten seines zentralen Nervensystems zum Schwingen brachte, als sei eine Stimmgabel angeschlagen worden.
Emotionen sind schwer fassbar. Ein Gefühl kann sich hinter einem anderen verbergen oder scheinbar unangemessen an die Oberfläche treten. Auf jenem regengepeitschten Kamm hoch über dem Columbia River wurde Ulysses Grove mit einem diffusen Gemisch konfrontiert – Jahre, in denen er seinen Verlust und die Trauer über Hannahs Tod verdrängt hatte, Monate um Monate, während derer er die Kontrolle über seine
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