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Die Eisprinzessin schläft

Die Eisprinzessin schläft

Titel: Die Eisprinzessin schläft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Läckberg
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das schon?
    Vera lächelte, als sie eins ihrer Lieblingsbilder betrachtete. Anders saß auf seinem Fahrrad, stolz wie ein Pfau. Sie hatte viele Abende und Wochenenden zusätzlich gearbeitet, um ihm das Rad kaufen zu können. Es war dunkelblau und hatte einen Bananensattel und war, wie er sagte, das einzige, was er sich in seinem ganzen Leben je wünschen würde. Er hatte sich schon so lange danach gesehnt, und sie vergaß nie seine Miene, als er es an seinem achten Geburtstag bekam. Jede freie Minute fuhr er mit dem Fahrrad herum, und auf diesem Foto war es ihr gelungen, ihn im Vorbeisausen zu erwischen. Seine Haare waren lang und kringelten sich unterhalb des Kragens seiner glänzenden, eng anliegenden Adidas-Jacke mit den Streifen auf den Ärmeln. So wollte sie ihn in Erinnerung behalten. Bevor alles angefangen hatte schiefzulaufen.
    Schon seit langer Zeit hatte sie auf diesen Tag gewartet. Jedes Telefonklingeln, jedes Klopfen an der Tür hatten sie in Angst versetzt. Vielleicht brachte gerade dieses Klingeln oder dieses Klopfen das, was sie schon so lange befürchtete. Dennoch hatte sie nicht wirklich geglaubt, daß der Tag kommen würde. Es war gegen die Natur, daß das eigene Kind vor einem selbst starb, und deshalb konnte sie sich diese Möglichkeit nur schwer vorstellen. Die Hoffnung starb zuletzt, und irgendwie hatte sie doch geglaubt, daß alles gut werden würde. Notfalls durch ein Wunder. Aber es gab keine Wunder. Und es gab keine Hoffnung. Übriggeblieben waren nur Hoffnungslosigkeit und ein Haufen vergilbter Fotos.
    Die Küchenuhr tickte laut in der Stille. Zum erstenmal bemerkte sie, wie heruntergekommen ihr Heim war. In all den Jahren hatte sie nichts an dem Haus gemacht, und danach sah es auch aus. Den Schmutz hatte sie ferngehalten, aber die Gleichgültigkeit hatte sie nicht wegputzen können, die saß wie festgeklebt an Decken und Wänden. Alles war grau und leblos. Vergeudet. Das bedrückte sie am meisten. Daß alles vergeudet und vertan war.
    Anders’ fröhliches Gesicht verhöhnte sie von den Bildern. Es sagte deutlicher als alles andere, daß sie gescheitert war. Sie hatte die Aufgabe gehabt, dieses Lächeln in seinem Gesicht zu bewahren, ihm Glauben zu geben, Hoffnung und vor allem Liebe angesichts der Zukunft. Statt dessen hatte sie schweigend zugesehen, wie er all dessen beraubt wurde. Sie hatte ihre Arbeit als Mutter schlecht gemacht, und die Schande würde sie nie aus ihrem Bewußtsein tilgen können.
    Ihr fiel auf, wie wenige Beweise es dafür gab, daß Anders wirklich gelebt hatte. Seine Bilder waren weg, die wenigen Möbel, die er in der Wohnung stehen hatte, würde man bald entsorgen, wenn niemand sie haben wollte. In ihrem Haus gab es nichts mehr von seinen Sachen. Die hatte er entweder verkauft oder mit den Jahren kaputtgemacht. Nur die Handvoll Fotos auf dem Tisch vor ihr bewies, daß er tatsächlich existiert hatte. Und ihre Erinnerungen. Zwar würden auch andere Leute sich an ihn erinnern, aber für sie war er nur der versoffene Penner, nicht jemand, der einem fehlt und den man betrauert. Sie war die einzige, die freundliche Erinnerungen an ihn hatte. Manchmal war es ihr schwergefallen, diese hervorzuholen, aber sie waren vorhanden, und an einem Tag wie diesem waren es die einzigen Erinnerungen an ihn, die wach wurden. Nichts anderes wurde zugelassen.
    Die Minuten wurden zu Stunden, und noch immer saß Vera mit den Fotos am Küchentisch. Die Glieder wurden ihr steif, und es fiel ihr immer schwerer, die Details auf den Bildern zu erkennen, da die Winterdunkelheit das Licht langsam drosselte. Aber es spielte keine Rolle. Sie war jetzt vollständig und unerbittlich allein.
     
    Die Türklingel erschallte im Haus. Es dauerte lange, bis er irgendeine Bewegung dort drinnen hörte, und er wollte schon kehrtmachen, um zum Auto zurückzugehen. Doch dann vernahm er, daß jemand vorsichtig auf die Tür zukam. Sie wurde langsam geöffnet, und Nelly Lorentz schaute ihn fragend an. Er war verwundert, weil sie selbst öffnete. In seiner Vorstellung hatte er einen reservierten Butler in Livree erwartet, der ihn gnädig ins Haus wies. Aber so einen hatte wohl heute niemand mehr.
    »Mein Name ist Patrik Hedström, und ich komme von der Polizei in Tanumshede. Ich suche Ihren Sohn Jan.«
    Er hatte zunächst im Büro angerufen, doch den Bescheid erhalten, daß Jan am heutigen Tag von zu Hause aus arbeitete.
    Die alte Dame hob nicht einmal die Brauen, sondern trat nur zur Seite und ließ ihn ein. »Ich

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