Die Eisprinzessin schläft
sich im selben Haus wie die Gemeindeverwaltung, und Patrik stieg die Treppen hoch. Er wurde zu Siv eingelassen, nachdem er das Mädel an der Rezeption fröhlich begrüßt hatte, mit der er in den letzten Jahren der Grundschule in dieselbe Klasse gegangen war. Siv Persson machte sich nicht die Mühe, vom Stuhl aufzustehen und ihn zu begrüßen, als er ins Zimmer kam. Ihre Wege hatten sich in den Jahren, seit Patrik bei der Polizei war, häufig gekreuzt, und sie respektierten das berufliche Können des anderen, auch wenn sie nicht immer derselben Ansicht waren, wie man einen Fall am besten behandeln sollte. Hinzu kam, daß Siv eine der warmherzigsten Personen war, die er kannte, wobei es für eine Sozialarbeiterin vielleicht nicht immer so gut war, nur das Beste im Menschen zu sehen. Zugleich bewunderte er sie, weil sie trotz aller Fehlschläge, die sie im Laufe der Jahre erlitten hatte, ihre unerschütterlich positive Sicht auf die menschliche Natur behalten hatte. Was ihn selbst anbetraf, fühlte Patrik, daß es sich eher in die andere Richtung entwickelt hatte.
»Hallo Patrik! Hast dich also durch das Schneechaos gekämpft.«
Patrik reagierte instinktiv auf den unnatürlich munteren Klang ihrer Stimme. »Ja, fast hätte man einen Schneepflug gebraucht, um hierher durchzukommen.«
Sie griff nach der Brille, die ihr an einer Schnur um den Hals baumelte, und setzte sie sich auf die Nasenspitze. Siv liebte kräftige Farben, und heute paßte die rote Brille genau zu ihrer Kleidung. Seit er sie kannte, trug sie dieselbe Frisur, einen kerzengerade geschnittenen Pagenkopf, wobei die Haare genau bis zum Kinn reichten und das kurze Pony über den Augenbrauen endete. Ihre Haare waren kupferrot und glänzten, die kräftigen Farben sorgten dafür, daß sich Patrik bei ihrem Anblick frischer fühlte.
»Du hast gesagt, du willst einen Blick auf einen meiner alten Fälle werfen? Auf Jan Norin.«
Noch immer ein viel zu bemühter Tonfall. Sie hatte das Material herausgesucht, noch ehe er gekommen war, und eine dicke Akte lag vor ihr auf dem Tisch.
»Ja, über den Jungen haben wir so einiges Material, wie du siehst. Beide Eltern waren drogenabhängig, und wären sie nicht verunglückt, hätten wir früher oder später eingreifen müssen. Sie kümmerten sich nicht um das Kind, und er mußte sich praktisch allein erziehen. Kam in schmutziger und zerrissener Kleidung zum Unterricht und wurde von den anderen gemobbt, weil er stank. Offenbar mußte er in dem alten Stall schlafen und dann in den Sachen, in denen er geschlafen hatte, zur Schule gehen.« Sie sah ihn über die Brille hinweg an. »Ich nehme an, du wirst mein Vertrauen nicht mißbrauchen, sondern dir die erforderlichen Genehmigungen beschaffen, um diese Auskünfte über Jan zu erhalten, auch wenn es erst hinterher ist!«
Patrik nickte nur. Er wußte, daß es wichtig war, die Regeln zu befolgen, aber manchmal erforderten die Ermittlungen eine gewisse Effektivität, und da mußten die Mühlen der Bürokratie eben hinterher mahlen. Siv und er hatten schon seit längerem eine gut funktionierende Arbeitsbeziehung, und er wußte, daß sie diese Frage stellen mußte. Er erwiderte: »Warum habt ihr nicht früher eingegriffen? Wieso konnte das so weit gehen? Das hier klingt ja, als sei Jan seit der Geburt vernachlässigt worden, und er war doch schließlich schon zehn Jahre alt, als die Eltern starben.«
Siv seufzte tief. »Ja, ich verstehe, was du meinst, und glaube mir, ich habe oft dasselbe gedacht. Aber als ich hier zu arbeiten anfing, übrigens erst gut einen Monat vor dem Brand, galten noch andere Regeln. Es mußte unglaublich viel geschehen, bevor sich der Staat einmischte und das Recht der Eltern beschränkte, ihre Kinder so zu erziehen, wie es ihnen gefiel. Viele traten auch für eine freie Erziehung ein, und das hatten Kinder wie Jan bedauerlicherweise auszubaden. Außerdem wies er nie irgendwelche Spuren körperlicher Mißhandlung auf. Um es kraß zu sagen, wäre es vielleicht das beste für ihn gewesen, wenn er geprügelt worden und im Krankenhaus gelandet wäre. In diesen Fällen warf man ein Auge auf die Familienverhältnisse. Aber entweder wurde er so mißhandelt, daß es nach außen nicht zu sehen war, oder sie haben ihn >nur< vernachlässigt.« Siv markierte die Anführungszeichen in der Luft.
Gegen seinen Willen verspürte Patrik eine Welle der Sympathie für den kleinen Jan. Verdammt, wie sollte man ein normaler Mensch werden, wenn man unter solchen
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