Die Eisprinzessin schläft
er ins Büro. Das Schneeschippen hatte ihn total ins Schwitzen gebracht, und er zupfte ein paarmal an seinem Hemd, um Luft an den Körper zu lassen. Die Kaffeemaschine war ein notwendiger Haltepunkt, bevor er mit der Arbeit beginnen konnte, und erst als er mit der Tasse in der Hand am Schreibtisch saß, fühlte er, daß sich sein Puls langsam beruhigte. Er gestattete sich, einen Moment zu träumen und in dem Gefühl der unbeschreiblichen, besinnungslosen Verliebtheit zu versinken. Die vergangene Nacht war genauso wundervoll gewesen wie die erste, aber sie hatten dennoch ein Fünkchen Vernunft aufgebracht und zugesehen, daß sie ein paar Stunden Schlaf bekamen. Zu behaupten, daß er ausgeruht sei, war übertrieben, aber er befand sich wenigstens nicht im Koma wie am Tag zuvor.
Die Notizen von der gestrigen Begegnung mit Jan waren das erste, was er sich vornahm. Er hatte keine neuen Details erfahren, die sein Interesse geweckt hätten, aber er betrachtete diese Stunde dennoch nicht als verlorene Zeit. Es war mindestens ebenso wichtig für die Ermittlung, daß er ein Gefühl für die Personen bekam, die in die Sache verwickelt waren oder es sein konnten. »Bei Mordermittlungen geht es um Menschen«, hatte einer seiner Lehrer auf der Polizeihochschule oft gesagt, und der Satz war Patrik im Gedächtnis geblieben. Er hielt sich außerdem für einen guten Menschenkenner, und bei der Befragung von Zeugen und Verdächtigen versuchte er stets, eine Zeitlang von den trockenen Fakten abzusehen und den Eindruck auf sich wirken zu lassen, den die vor ihm sitzende Person machte. Jan hatte nicht gerade positive Gefühle bei ihm ausgelöst. Unzuverlässig, glatt und lüstern waren Wörter, die in seinem Gehirn auftauchten, als er Jans Persönlichkeit zu beschreiben versuchte. Völlig klar war, daß er mehr verschwiegen als erzählt hatte. Erneut griff Patrik nach dem Papierstapel über die Familie Lorentz. Noch immer hatte er keinen konkreten Zusammenhang zwischen dieser und den beiden Mordfällen finden können. Mit Ausnahme der Anrufe, die Anders an Jan gerichtet hatte, nur in dem Fall konnte er nicht beweisen, daß Jans Geschichte von den stummen Anrufen nicht stimmte. Patrik nahm die Akte über den Tod von Jans Eltern zur Hand. Irgend etwas in Jans Stimme, als er von dem Ereignis gesprochen hatte, beunruhigte Patrik. Da war ein falscher Ton gewesen. Ihm kam eine Idee. Er hob den Hörer ab und gab eine Nummer ein, die er im Kopf hatte.
»Hallo, Vicky, wie geht’s?«
Die Person am anderen Ende der Leitung versicherte, daß alles bestens war. Nach den einleitenden Höflichkeitsfloskeln konnte Patrik zu seinem eigentlichen Anliegen kommen. »Du, ich möchte gern wissen, ob du mir einen Gefallen tun könntest. Ich habe gerade einen Burschen im Visier, der etwa fünfundsiebzig in den Papieren des Jugendamts aufgetaucht sein muß. Zehn Jahre alt, Jan Norin hieß er damals. Glaubst du, daß ihr darüber noch was habt? Okay, ich warte.«
Er trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, während Vicky Lind vom Jugendamt die Daten eingab. Nach ein paar Minuten hörte er sie wieder im Hörer.
»Du hast die Angaben dort? Spitze. Kannst du sehen, wer den Fall in der Hand hatte? Siv Persson. Wunderbar, Siv kenne ich. Hast du ihre Nummer?«
Patrik notierte die Telefonnummer eifrig auf einem Zettel und legte auf, nachdem er versprochen hatte, Vicky irgendwann mal zum Mittagessen einzuladen. Er wählte die erhaltene Nummer und hörte umgehend eine muntere Stimme am Apparat. Es zeigte sich, daß Siv den Fall Jan Norin sehr gut in Erinnerung hatte und daß Patrik gern sofort vorbeikommen konnte.
Patrik zerrte die Jacke mit solchem Eifer vom Garderobenständer, daß er ihn zum Umkippen brachte. Um das Maß voll zu machen, glückte es dem Ständer auf seinem Weg nach unten nicht nur, ein Bild von der Wand, sondern auch einen Blumentopf aus dem Bücherregal zu reißen, was ein gehöriges Gepolter verursachte. Patrik ließ erst mal alles liegen, und als er auf den Korridor kam, sah er, daß man die Köpfe aus allen Türöffnungen steckte. Er winkte nur ab und rannte aus der Haustür, während neugierige Augenpaare seinen Abgang verfolgten.
Das Jugendamt lag nicht mehr als ein paar hundert Meter vom Polizeirevier entfernt, und Patrik stapfte durch den Schnee in Richtung Einkaufsstraße. Am Ende der Straße bog er am Restaurant »Tanumshede Gestgifveri« nach links ab und ging ein kurzes Stück geradeaus weiter. Das Amt befand
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