Die Eisprinzessin schläft
weh zu tun. Genau das zu verstehen und zu akzeptieren hatte sie die längste Zeit gekostet, nämlich daß er es tatsächlich genoß, ihr Schaden zuzufügen. Jahrelang hatte sie seinen Versicherungen geglaubt, daß ihn die Schläge genauso schmerzten wie sie selbst, doch jetzt war es damit vorbei. Sie hatte das Ungeheuer in ihm schon öfter zu Gesicht bekommen, und inzwischen kannte sie es nur zu gut.
Sie kauerte sich instinktiv zusammen, um sich vor den Schlägen zu schützen, die, wie sie wußte, jetzt folgen würden. Als die dann auf sie herabregneten, versuchte sie sich auf einen Punkt in ihrem Inneren zu konzentrieren, den Lucas nicht erreichen konnte. Darin war sie immer besser geworden, und obwohl ihr der Schmerz bewußt war, konnte sie sich die meiste Zeit von ihm distanzieren. Es war, als würde sie an der Decke über sich schweben und auf ihr eigenes Ich hinuntersehen, das zusammengekrümmt am Boden lag, während Lucas seine Wut an ihr ausließ.
Ein Geräusch ließ sie überstürzt in die Wirklichkeit zurückkehren und in ihrem Körper Platz nehmen. Emma stand in der Tür, den Daumen im Mund und ihre Kuscheldecke im Arm. Anna hatte es geschafft, daß sie seit über einem Jahr nicht mehr den Daumen nahm, doch jetzt lutschte sie krampfhaft daran, um sich zu trösten. Lucas hatte sie noch nicht entdeckt, weil er mit dem Rücken zur Tür stand, doch er drehte sich um, als er bemerkte, daß Annas Blick auf etwas hinter ihm haftete.
Ehe Anna ihn hindern konnte, war er mit einem raschen Schritt bei der Tochter, packte sie und schüttelte sie so heftig, daß Anna hören konnte, wie ihre Zähne klapperten. Anna stand vom Boden auf, aber alles schien in Zeitlupe zu geschehen. Sie wußte, daß diese Szene für immer vor ihrem inneren Auge ablaufen würde: Lucas, der Emma schüttelte, die mit großen, verständnislosen Augen zu ihrem geliebten Papa aufsah, der sich plötzlich in einen furchterregenden Fremden verwandelt hatte.
Anna stürzte zu Lucas, um Emma zu schützen, aber bevor sie ihn noch erreichen konnte, sah sie mit Entsetzen, wie Lucas den kleinen Körper gegen die Wand drosch. Ein scheußliches Knirschen war zu hören, und Anna wußte, daß ihr Leben sich jetzt unwiderruflich veränderte. Lucas’ Augen waren von einem glänzenden Film überzogen, und er schaute fast verständnislos auf das Kind in seinen Händen, bevor er es vorsichtig und liebevoll absetzte. Dann nahm er Emma wieder in seine Arme, diesmal wie ein kleines Baby, und sah Anna mit blanken, roboterhaften Augen an.
»Sie muß ins Krankenhaus. Sie ist auf der Treppe gefallen und hat sich weh getan. Wir müssen es ihnen erklären. Sie ist auf der Treppe gefallen.«
Er redete zusammenhanglos und ging auf die Wohnungstür zu, ohne nachzusehen, ob Anna hinterherkam. Sie befand sich in einer Art Schockzustand und folgte ihm schlaff. Es war, als bewegte sie sich durch einen Traum, aus dem sie jeden Augenblick aufwachen würde.
Lucas wiederholte immer wieder: »Sie ist auf der Treppe gefallen. Die müssen uns glauben, wenn wir nur dasselbe sagen, Anna. Denn wir sagen doch dasselbe, Anna, sie ist auf der Treppe gefallen, stimmt’s?«
Lucas brabbelte weiter, aber Anna war nur imstande zu nicken. Sie wollte Emma, die jetzt vor Schmerz und Verwirrung hysterisch weinte, aus Lucas’ Armen reißen, aber sie wagte es nicht. Im letzten Moment, als sie bereits im Treppenhaus standen, wachte sie aus ihrem umnebelten Zustand auf und begriff, daß Adrian allein in der Wohnung zurückgeblieben war. Sie lief eilig zurück, um ihn zu holen, und wiegte ihn auf dem ganzen Weg zur Notaufnahme beschützend in ihren Armen, während der Knoten in ihrem Magen immer größer wurde.
»Willst du herkommen und mit mir Mittag essen?«
»Ja, gern. Wann soll ich kommen?«
»Ich könnte es ungefähr in einer Stunde fertig haben, ist das okay für dich?«
»Ja, perfekt. Da schaffe ich es noch, ein bißchen was wegzuräumen. Dann sehen wir uns in einer Stunde.«
Es folgte eine kleine Pause, dann sagte Patrik zögernd: »Küßchen, bis später.«
Erica fühlte, wie sie vor Freude leicht rot wurde über diesen ersten kleinen, aber bedeutsamen Vorwärtsschritt bei ihren Beziehungsfloskeln. Sie erwiderte dasselbe, und dann legten sie auf.
Während sie das Essen vorbereitete, schämte sie sich ein bißchen über das, was sie geplant hatte. Zugleich war ihr klar, daß sie nicht anders handeln konnte, und als es eine Stunde später an der Tür klingelte, holte sie tief
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