Die Eisprinzessin schläft
nichts Neues. Was ihn hingegen verblüffte, war das nagende Gefühl, das er beim Anblick des Lederstückchens empfand.
Irgend etwas in seinem Unterbewußtsein forderte Aufmerksamkeit und versuchte ihm klarzumachen, daß dieser kleine Lederfleck etwas Wichtiges zu sagen hatte. Ihm entging hier offenbar etwas, aber es gab sich einfach nicht zu erkennen. Hingegen verstand er, daß dieses Lederstück auf einen Zusammenhang zwischen Alex und Anders hinwies, der in die Zeit weit zurück reichte. Mindestens bis 1976. Das Jahr, bevor Alex mit ihrer Familie aus Fjällbacka weggezogen und ein ganzes Jahr lang nicht aufzufinden war. Das Jahr, bevor Nils Lorentz für immer verschwand. Nils, der laut Erica Lehrer an jener Schule gewesen war, die sowohl Alex als auch Anders besucht hatten.
Patrik sah ein, daß er mit Alexandras Eltern sprechen mußte. Stimmte der Verdacht, der jetzt in ihm Gestalt annahm, waren sie im Besitz der fehlenden Antworten, jener Antworten, die die Stücke zusammenfügten, die er zu erkennen glaubte.
Er nahm das Heft und das Lederstückchen, jedes steckte in einer extra Folie, und warf einen letzten Blick ins Wohnzimmer, bevor er ging. Wieder sah er das Bild von Anders’ bleichem, magerem Körper vor seinem inneren Auge, und er schwor sich, daß er der Sache auf den Grund gehen wollte, die dazu geführt hatte, daß Anders sein trauriges Leben in einer Schlinge beendete. Stimmte das, was er jetzt in Konturen wahrnahm, ging es um eine Tragödie jenseits alles Faßbaren. Er hoffte wirklich, daß er sich irrte.
Patrik suchte Göstas Namen im Adreßbuch heraus und wählte die Nummer seines Anschlusses im Revier. Vermutlich würde er den Kollegen mitten bei einer Patience stören.
»Hallo, hier ist Patrik.«
»Hallo Patrik.«
Göstas Stimme am anderen Ende klang genauso müde wie gewöhnlich. Überdruß und Mißmut hatten bei ihm zu ständiger äußerer und innerer Müdigkeit geführt.
»Du, hast du schon einen Besuch bei Carlgrens in Göteborg verabredet?«
»Nein, ich habe es noch nicht geschafft. Hatte soviel anderes am Hals.«
Gösta klang abwartend, reagierte defensiv auf Patriks Frage, aus Sorge, man könnte ihn kritisieren, weil er seine Aufgabe noch nicht in Angriff genommen hatte. Den Hörer zu nehmen und anzurufen erschien unmöglich und sich ins Auto zu setzen und nach Göteborg zu fahren geradezu undenkbar.
»Hättest du was dagegen, wenn ich das für dich erledige?«
Patrik wußte, daß es sich hierbei um eine rhetorische Frage handelte. Er war sich völlig bewußt, daß Gösta überglücklich war, wenn er um die Sache herumkam. Und wirklich antwortete Gösta mit plötzlicher Freude in der Stimme: »Nein, absolut nicht! Wenn du daran interessiert bist, dann von mir aus gern. Ich habe soviel anderes auf dem Tisch, verstehst du, und weiß eigentlich nicht, wie ich das sonst schaffen soll.«
Sie waren sich beide im klaren, daß sie hier ein Spiel spielten, aber so ging es schon seit vielen Jahren, und für jeden von ihnen war es von Nutzen. Patrik konnte das tun, was er tun wollte, und Gösta konnte in der ruhigen Gewißheit, daß die Arbeit dennoch erledigt würde, zu seinem Computerspiel zurückkehren.
»Könntest du die Nummer für mich raussuchen, dann rufe ich sofort an.«
»Ja, natürlich, ich habe sie hier. Wollen mal sehen …« Er las die Nummer vor.
Patrik schrieb sie auf den Block, den er am Armaturenbrett befestigt hatte. Er bedankte sich bei Gösta und legte auf, um Carlgrens unmittelbar anzurufen. Er drückte die Daumen, daß sie zu Hause waren, und hatte Glück. Karl-Erik meldete sich nach dem dritten Klingelzeichen. Als Patrik sein Anliegen vorbrachte, reagierte er erst zögernd, stimmte dann aber zu, daß Patrik kommen und ein paar Fragen stellen könne. Karl-Erik versuchte zu erfahren, worum es dabei ging, aber Patrik wich der Antwort aus und sagte nur, es seien ein paar Fragezeichen aufgetaucht, und er hoffe, daß sie ihm helfen könnten, die Sache zu klären.
Er fuhr rückwärts aus dem Parkplatz vor dem Wohnblock und dann zuerst nach rechts und bei der nächsten Kreuzung nach links, um in Richtung Göteborg zu kommen. Das erste Stück ging schleppend, über kleine Straßen, die sich durch den Wald wanden, aber sobald er die Autobahn erreicht hatte, lief es bedeutend schneller. Er kam zuerst an Dingle, dann an Munkedal vorbei, und als er Uddevalla erreicht hatte, wußte er, daß die halbe Strecke hinter ihm lag. Wie immer, wenn er Auto fuhr, ließ er Musik in
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